KW07

«Natürlich bedeutet es etwas, wenn am Lift auf einmal ein Bügel fehlt.»

Gianna Conrad Arno Camenisch

Mit «Der letzte Schnee» legt Arno Camenisch dieser Tage einen Text aus einer schmelzenden Welt vor. Das Buchjahr sprach mit ihm über Verdichten, Verwässern und Vergessen.

Von Redaktion Buchjahr
13. Februar 2018

Arno, bevor wir in die Tiefe gehen: Wir waren ja bei der Vernissage von «Der letzte Schnee» im Zürcher Kosmos zugegen – und nicht zum ersten Mal drängte sich uns der Eindruck auf, dass Deine Bücher im Grunde für die Bühne, zumindest: für das laute Lesen und den öffentlichen Vortrag geschrieben werden. Hast Du das Gefühl, dass die Rezeption Deiner Texte auch stark mit Deiner Leseperformance verbunden ist?

Ich glaube schon, aber der Text muss natürlich auch ohne meine Präsenz funktionieren. Die kommen auch ohne mich aus. Ob die Texte von der Bühnensituation her gedacht sind? Ich gehe zumindest gerne auf die Bühne. Dort oben hat man nur sich selber und den Text, das ist ganz pur.

Du lässt Dich bei Deinen Lesungen ja auch nie moderieren.

Fast nie. Ich inszeniere Lesungen gerne gerade so, wie ich dazu Lust habe. Mich interessieren sie auch als «Kunstform». Wie vermittelt man einen Text? Das Performative ist meinem ganzen Schaffen als Autor von Anfang an eingeschrieben. Das fing an bei den Rätoromanischen Literaturtagen in Domat/Ems. Mein Bruder – er schrieb auch – reichte da einen Text ein und fragte mich, ob ich mich nicht auch bewerben wolle. Ich war damals 22 oder 23 Jahre alt. Kurzum: Ich habe mich dann auch beworben und wurde als einer von fünfen ausgewählt zur Lesung. Und das war eigentlich der Moment, in dem ich merkte: Das will ich. Das gefällt mir. Da auf der Bühne, da ist mir eine Welt aufgegangen.

Zum Autor

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa geboren, schreibt auf Deutsch und Rätoromanisch. Er studierte am Literaturinstitut in Biel, wo er auch heute lebt. Seine viel beachteten Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt.
Foto: © Sébastien Agnetti

Und dieser performative Aspekt ist Deinen Büchern ja auch eingeschrieben. Wenn wir mal auf «Der letzte Schnee» zu sprechen kommen – das ist ja erneut ein Text, der sehr stark über die Mündlichkeit, über das Spiel mit Idiomen und mit Versatzstücken von Sprache strukturiert wird.

Eben. Schreiben war für mich immer auch Texthören. Früher habe ich mit Kopfhörern geschrieben, damit es ganz still ist; wenn ich einen Text lese, dann höre ich ihn. Das ist für mich, als ob ich eine Partitur lese. Und ein Auftritt ist auch wie ein Konzert. Diese Verbindung zwischen Schreiben und Hören erstreckt sich im Übrigen auch aufs Lektorat. Urs Engeler liest mir meine Texte vor und ich höre zu. Und dann verhandeln wir wirklich über Punkt und Kommata und über «die» und «sie». Zwei-drei Stunden lang sehr konzentriert, kompakt. Und dann hören wir wieder auf und machen am nächsten Tag weiter.

Welche Verbindung hat Dein Schreiben dann zu so etwas wie «Spoken Word»?

Ich habe das ja eine Zeit lang gemacht, bei «Bern ist überall» habe ich mich beteiligt, war aber nie ganz daheim im «Spoken Word». Es ist mehr die Klanglichkeit, der Rhythmus, der mich interessiert, das Spiel mit der Sprache. Das, was auf der Mikroebene vor sich geht. In meinem neuen Buch sagt Paul an einer Stelle: Das mit dem Nebel, das ist eine Lotterie. Und Georg antwortet: Das mit dem Leben auch. Also mit einem Palindrom. Solche Dinge interessieren mich.

In Deinen Büchern geht es dabei jedoch nicht um «Kunstsprache», sondern um die Literarisierung von Sprachmustern, die uns umgeben. Die Rhythmik und die Lautlichkeit dringt also aus der Alltagssprache.

Ich kann zunächst einmal den Umkehrschluss bestätigen. Die Figuren werden in meinen Texten ja nur über ihre Sprache sichtbar, über den Duktus. Und trotzdem kommen nach meinen Lesungen immer wieder Menschen zu mir – häufig war das bei Ustrinkata –, die sagten, sie sähen die Figuren sehr genau vor sich. Dabei werden die ja gar nicht beschrieben. Für mich war es aber tatsächlich ganz wichtig, die Register zu studieren. Wie reden welche Figuren? Die Plastizität der Figuren kommt ganz aus der Sprache, die sie benutzen. Und jede Figur redet eben ein wenig anders. Es gibt so bestimmte Worte, die offensichtlich Figuren Konturen verleihen. Zum Beispiel «afängs». Ich hatte da ausgiebige Diskussionen mit meiner Übersetzerin ins Italienische, und da merkten wir, es geht da wohl gar nicht um die konkrete Bedeutung, sondern um das Register, das sich mit dem Wort verbindet. Um Scharnier-Momente.

Die ergeben sich ja nicht zuletzt aus der Deinen Texten eigentümlichen Beimischung von Elementen aus dem Romanischen, dem Bündnerdeutschen und dem Italienischen. Wie wichtig ist für Dich Graubünden als Resonanzraum Deines Schreibens?

Das spielt zwangsläufig eine Rolle, also die Art und Weise, wie ich mit Stimmen umgehe, hat natürlich mit meiner Herkunft zu tun. Die Nachbarn in meinem Heimatdorf haben etwa Italienisch gesprochen und konnten weder Deutsch noch Romanisch – und hat man gleichwohl sich mit ihnen unterhalten. Die Mutter eines Schulfreundes sprach Französisch, unter den Arbeitern im Dorf war Portugiesisch auch verbreitet – selbst in dem kleinen Kosmos hat es all diese verschiedenen Klänge gegeben, und das hat mich natürlich geprägt. Im Übrigen ist auch das Schweigen ein besonderes Schweigen in Graubünden. In der Beiz meiner Tante, bei der ich zur Hälfte aufgewachsen bin, sassen oft Leute, die stundenlang kein einziges Wort sagten.

Vom kleinen Kosmos zu grossen Themen: «Der letzte Schnee» verhandelt ja den Klimawandel.

Das ist ein Thema, das mich extrem beschäftigt. Und ja: «Der letzte Schnee» ist ein Buch über die Erwärmung des Klimas. Diese Frage, wie wird das eigentlich sein in zehn oder zwanzig Jahren mit dem Schnee, was heisst denn das für Bergregionen, wenn die Gletscher schmelzen und die Winter immer kürzer werden?

Vor allem stellt Dein Text ja auch die Frage, was diese Veränderungen für eine Gesellschaft bedeuten, die sich um den Tourismus herum zentriert hat.

Ja – vor allem aber auch um die Unverständlichkeit dieser Veränderungen. Georg und Paul, die beiden Figuren in diesem Text, sind ein wenig wie die Vergessenen, oder die, die übrig geblieben sind. Die stehen dort wie auf dem Dach der Welt, der Schlepplift läuft noch, aber er läuft leer. Und ihnen bleibt im Grunde nur noch das Werweisen, die Spekulation über die grossen Player im Hintergrund, das Rätseln darüber, was von den Gerüchten stimmt und was nicht. Das beschäftigt sie. Und es bleibt ihnen nichts, ihre Existenz geht zu Ende, sie schmilzt mit dem Schnee. Sie erzählen Geschichten vom langsamen Sterben des Tals und der Dörfer. Bereits in Hinter dem Bahnhof war dieses Thema präsent und der letzte Satz des Textes gab deutlich zu verstehen, was da passiert. «Als wir das zweite Mal zurückschauen, ist das Dorf verschwunden.» Die Beiz, die Bäckerei, die Post schliessen – und sie bleiben.

Würdest Du das als ein katastrophisches Szenario verstehen wollen? Die Rückentwicklung, die Deine Texte abschreiten, ist ja auch ein Schritt zurück hinter die Fremdenverkehrswelt, die das literarische Bild Graubündens ja seit sechzig Jahren dominiert.

Ja, vielleicht ist es erst einmal nur ein «Neues», das kommt. Aber damit verbunden ist natürlich das Ende und das Verschwinden.

Gleichzeitig ist «Der letzte Schnee» ja auch ein Text über das Erzählen. Mit dem Erzählen verbunden ist ja der Schlepplift, der immer wieder neue Geschichten heraufbefördert. Der Lift läuft immer noch, nur sitzt keiner mehr drin und auch die neuen Geschichten sind nur noch Erinnerungen. Die Maschine läuft noch, ist aber dysfunktional geworden.

Aber die Geschichten sind immerhin noch da, wie die Bügel am Schlepper. Das ist ja auch eine Form zu existieren. In Ustrinkata hiess es ja auch schon: Solange noch einer erzählt, ist das letzte Glas nicht ausgetrunken. Wir sind, solange wir erzählen.

Und Journal führen.

Wir leben ja in einem Zeitalter von Zahlen und Tabellen, von Inventur. Wir vergewissern uns ständig, ob noch alles da ist. Und natürlich bedeutet es etwas, wenn am Lift auf einmal ein Bügel fehlt.

Um noch einmal von dort ausgehend etwas ketzerisch nachzuhaken: Dieses «À jour-Sein» auf dem Gipfel – das ist im Zeitalter von Datenfluten dann doch immer noch auch eine idyllische Vorstellung.

Klar, diese Welt hat eine Ordnung und ist überblickbar. Ein brutal reduziertes, verdichtetes, sich immer verdichtendes Setting, das hat für mich natürlich schon auch etwas Idealisches. Ich bin ein grosser Bewunderer Giacomettis, dessen Werk seine extreme Kraft ja gerade aus der Verdichtung heraus entwickelt. Beat Sterchi hat mir mal gesagt: Kein Hund ist so sehr Hund wie der Hund von Giacometti. Und das stimmt. In der äussersten Reduktion zeigt sich das Wesen der Dinge. Das ist ein Orientierungspunkt der Bildsprache meiner Texte, in der dann auch die Hauptarbeit steckt. Die Übersetzer glauben oft, das seien einfach ihnen unbekannte Bilder aus dem Romanischen, das stimmt aber gar nicht. Man kann diese Bilder auch nicht freier übersetzen, weil es eben «Sprachspiele» sind, sondern es verhält sich genau umgekehrt: Man muss ganz präzise beim Bild bleiben. «Da kommt er über die Landschaft, frisch wie ein Pantoffel.» Da öffnen sich poetische Räume, ohne dass man das konstruieren müsste. Das ist etwas ganz Instinktives. Es ist immer das erste Bild, das einem in den Sinn kommt, das zählt. Und wenn keines erscheint, dann gibt es auch keines. Und wenn ich versuchen würde, das Gemeinte zu umschreiben, würde ich wässrig werden.

Gibt es neben Giacometti auch noch andere ästhetische Konzepte, an denen Du dich orientierst?

Jemand, der mich extrem fasziniert, ist Pina Bausch. Kurz bevor ich Ustrinkata geschrieben habe, hatte ich im Kino Pina gesehen – und das hat mich regelrecht umgehauen. Das ist wirklich eine ganz eigene Sprache, Körpersprache, Bildsprache, ein Kosmos für sich. Ansonsten: Es gibt ein paar Filmemacher, die mir sehr viel Freude bereiten, Almodóvar zum Beispiel. Auch da: eine ganz eigene, unverkennbare Ausdrucksform, Du schaust so einen Film zwanzig Sekunden und Du weißt: Almodóvar. Ebenso Kaurismäki. Unter den Schweizern: Roman Signer. Unter den Literaten: Swetlana Geier, die grossartige Dostojewski-Übersetzerin, eine faszinierende Person. In der ihr gewidmeten Dokumentation gibt es eine kleine Szene, die mir sehr gefallen hat: Sie liest vor – und dann gibt es diesen Moment, in dem sie ihre Hand in den Randensalat eintaucht. Das ist passive Konzentration, das ist alles Teil des Übersetzens. Eine Welt. Alles hat eine Wichtigkeit. Und wenn man schreibt, dann geht es auch genau darum: Zu sich schauen, mit dem Guten umgehen. Auch wenn es oft heisst, den Schriftstellern müsse es schlecht gehen, damit sie das Beste aus sich herausholen: Mir muss es gutgehen, damit ich schreiben kann.

Wie intensiv ist der Austausch mit anderen Schweizer Autorinnen und Autoren Deiner Generation?

Was meine literarische Produktion angeht – gar nicht. Der einzige, mit dem ich meine Texte bespreche, ist mein Verleger. Wenn ich die Hälfte habe, schicke ich sie ihm, dann machen wir einen Waldspaziergang, er hat zwei Hunde, ich bekomme dann auch einen, den kriegt er nach dem Spaziergang wieder zurück. Das sind die einzigen Gespräche, die ich diesbezüglich führe.

Und was liest Du?

Grundsätzlich lese ich schon das, was gerade herumliegt. Ich lese zum Beispiel gerne Interviews, ich erinnere mich ein schönes Interview mit Ivica Kostelić gelesen zu haben, dem Slalomfahrer – die haben auch ähnliche Fragen wie wir. Mich interessieren die Geschichten, die diese Leute erzählen. Ansonsten: Markus Werner habe ich immer gerne gelesen, Urs Widmer auch. Mit ihm und Peter Rüedi habe ich einmal bei einem Festival backstage versucht, Eier auf den Kopf zu stellen. Aber in der Zeit, in der ich am Schreiben bin, lese ich nicht. Allgemein mag ich gerne Ausstellungen oder Filme, auch wenn nicht während des Schreibprozesses, dann lebe ich ein sehr unaufgeregtes Leben mit so wenig Ablenkung wie nur möglich. Aber wenn wir gerade vom Film reden, da fällt mir ein: Paterson, der letzte Jarmusch-Film, der ist auch grossartig – das hat so eine Einfachheit, so eine Ehrlichkeit.

Da wären wir wieder am Anfang unseres Gesprächs.

Genau. Auf der Bühne, auch auf der literarischen Bühne, geht es um Ehrlichkeit. Du kannst versuchen, etwas darzustellen, aber was die Leute berührt, ist nicht das, was Du ihnen vormachst, sondern, wenn Du ganz ehrlich bist, das Gefühl, das Du dabei vermittelst. Und das gilt auch für Der letzte Schnee: Das ist nicht gesucht. Die Themen, die im Schnee stecken, der Wandel, der sich mit seinem Ausbleiben verbindet – die sind empfunden, die liegen mir am Herzen. Das ist das, was ich zu erzählen habe, für das ich mich auf die Bühne stelle.

Das Gespräch führten Gianna Conrad und Philipp Theisohn.

Arno Camenisch: Der letzte Schnee. 100 Seiten. Holderbank: Urs Engeler 2018. 25 CHF.

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