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Eine Sprache der Trauer

Seit jeher sind Camenischs Romane von einer historischen Trauerarbeit durchzogen. In seiner neusten Erzählung erfährt die Alltagstragik einen unverhofft ernsten Anstrich, dessen poetische Wirkkraft gerade aus der Unmittelbarkeit konventioneller Sprache erwächst.

Von Marco Neuhaus
25. Februar 2021

Was kommt nach dem Skilift?

Arno Camenischs Büchlein sind dem Vergehen der Zeit und der Ablösung einer Lebensform durch eine andere nicht feindlich gesonnen, aber sie versuchen, die Erfahrung von Verlust im Wandel einzuholen: die Tatsache, dass die Welt, in der man einmal gelebt hat, irgendwann weg ist und nur noch in der Erinnerung fortlebt. Wenn Camenisch vom Wandel der Zeit erzählt, dann ist es die Lücke des Verlorenen, die Kontur gewinnt, nicht das Neue oder das Kommende. Ob die Geschichte im gegebenen Fall nun den Namen des Klimawandels oder der Umgehungsstrasse neben dem Dorf trägt, die Gestalt des Neuen bleibt undeutlich, vielleicht unverständlich, aber ihr Kennzeichen ist der Verlust, an dem sich Camenischs Figuren abtasten. Es ist wohl nicht einfach, sich so dem Rückblick zu verschreiben, ohne sich irgendwann als Anwalt des Vergangenen wiederzufinden, aber bis jetzt sind Camenischs tragikomische Werke nie kulturpessimistisch oder bitter geworden. Nur durfte man sich irgendwann fragen, wie viele Glieder die Kette seiner kurzen Romane über den Wandel der Zeiten noch brauche. Die Bücher waren konsistent und in sich schlüssig, sprachlich unaufdringlich, aber dennoch profilscharf und eigenständig, und immer freundlich und uneitel genug, dass ihnen wenig ausser einer gewissen Biederkeit vorzuwerfen wäre. Aber nachdem Camenisch zuletzt den Skiliften und den Kiosken liebenswert respektvolle Denkmäler gesetzt hatte, drängte sich die Frage auf, wie viele von der Zeit überrundete Wirtschaftszweige ihm noch in den Sinn kommen würden.

Die üblichen Motive in Extremform

In Camenischs neuem Roman Der Schatten über dem Dorf kehrt ein namenloser Erzähler in das Dorf seiner Jugend zurück, es werden Erinnerungen an die Familie und den Alltag der Kindheit, aber vor allem an altes Unglück wach. Waren Camenischs letzte Bücher wie Der letzte Schnee und Goldene Jahre im Wesentlichen um Figurendialoge herum konstruiert, erlaubt die Konzentration auf diesen Ich-Erzähler einen Radius, der gleichzeitig grösser und kleiner erscheint; ein Erzählen, das weiter zu den verschiedenen Dorfbewohner*innen ausgreifen und sich stärker in der nachdenklichen Erzählstimme bündeln kann.

Zum Autor

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa geboren, schreibt auf Deutsch und Rätoromanisch. Er studierte am Literaturinstitut in Biel, wo er auch heute lebt. Seine viel beachteten Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt.
Foto: © Sébastien Agnetti

Camenischs Hang zu liebenswürdig respektvollem Lokalkolorit fehlt nicht: Es wird gejasst, Postauto, Coop Restaurant, Skifahren, die Werkstatt vom Grossvater, ein wenig Rumantsch, und wenn man Glück hat, bekommt man im Kiosk etwas Süsses oder ein Bravo. Die Befürchtung des Abgleitens in die mechanische Selbstwiederholung kann «Der Schatten über dem Dorf» zerstreuen: nicht, indem er von seinen gewohnten Themen abrückt, sondern indem er gleichsam Ernst macht mit ihnen, sie in ihren Extremformen aufsucht und ihnen dadurch die bislang deutlichste und dringlichste Gestalt gibt.

«Das würde man nie verstehen können»

Der Schatten über dem Dorf ist aber auch das bislang traurigste von Camenischs nachdenklich traurigen Büchern. Es handelt von Scheidung, Unfällen, Sterben und Suizid; im Zentrum steht ein Unglück, bei dem drei Kinder zu Tode kommen. Die Alltagssprache schrickt zurück vor solchen Tragödien. Der Verlust zwingt zu einem Sprechen und Schreiben, das weiss, dass es die Lücken nicht füllen, sondern nur markieren kann. Camenisch versucht nun gerade nicht, ein neues Vokabular oder eine neue Bildlichkeit für die Trauer zu finden, sondern geht mit den abgetragenen Formeln mit, die zwischen Direktheit und Verdrängung oszillieren. Es häufen sich Wendungen wie «zu tief musste der Schmerz sein», «was musste da in einem vorgehen», «das würde man nie verstehen können», es wird nach «Kraft» und «Trost» gefragt. In einem anderen Zusammenhang heisst es auch:

«Und dann war sie plötzlich nicht mehr da. Nur noch die Erinnerung, die einen über nichts hinwegtröstet, der Schmerz, der ist ewig. Das wusste er. Der blieb, der war wie ein Lied, mochten auch die Jahre vergehen, der Schmerz, der blieb

Die Konventionalität solcher Ausdrücke macht sie nicht unehrlich. Camenisch folgt ihnen, bis ihre Möglichkeiten und deren Grenzen langsam Umrisse gewinnen, begegnet dieser Sprache und ihrer prekären Würde auf Augenhöhe, ohne vorzuspiegeln, dass sie der Trauer habhaft werden kann. Und eben darin liegt etwas Berührendes, das dieses Büchlein aus der Reihe seiner Vorgänger herausragen lässt.

Arno Camenisch: Der Schatten über dem Dorf. 104 Seiten. Schupfart: Engeler Verlag 2021, ca. 25 Franken.