KW50

Das All so nah, die Welt zu voll

In ihrem neuen Roman «Der verschwundene Mond» skizziert Zoë Jenny das Leben eines in der Midlifecrisis steckenden Akademikers. Trotz Klimakrise und nahender Apokalypse, gibt die Autorin ein Vierteljahrhundert nach ihrem grossen Bestseller «Das Blütenstaubzimmer» zu verstehen, ist der Mensch sich selbst und seinen ganz persönlichen Problemen immer noch am nächsten.

Von Lara Buchli
13. Dezember 2022

Marty ist ein erfolgreicher Mann mittleren Alters, der scheinbar ein perfektes Leben führt: Der Leiter des Astronomischen Instituts in Wien ist verheiratet und Vater einer Tochter. Er lebt mit der Familie in einer hübschen Villa in Schönbrunner Gelb und fährt sogar einen Tesla. Die Tochter – passenderweise Stella genannt – ist zwar pubertierend und deshalb ist Martys Beziehung zu ihr gerade auf Eis gelegt, aber wenigstens hat er wieder öfters Sex mit seiner Ehefrau.

Zur Autorin

Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren. Ihr erster Roman «Das Blütenstaubzimmer» (1997) wurde in 27 Sprachen übersetzt und zum weltweiten Bestseller. In den folgenden Jahrzehnten erschinen von ihr unter anderem die Romane «Der Ruf des Muschelhorns» (2000) und «Das Portrait» (2007), ihre Erzählungen «Spätestens morgen» (2013) und 2022 ihr Roman «Der verschwundene Mond». Zoë Jenny lebt heute in der Nähe von Wien.

Doch Martys gefestigtes Dasein bröckelt mit fortschreitender Erzählung zusehends. Seine Frau macht eine Gesprächstherapie bei einem Psychologen, von welcher der Astrophysiker wenig hält. Psychologie ist für Marty keine richtige Wissenschaft. Wie es der Zufall jedoch will, trifft er auf einem Geschäftsflug auf den Psychiater Dr. Steindorfer, der seine hobbyastronomischen Beobachtungen auf ein neues Verständnis des menschlichen Bewusstseins anwenden will. Steindorfer hinterlässt Marty sein Manuskript zum Gegenlesen. Martys Skepsis schlägt bald in Neugierde um und schliesslich wird er von der Lektüre völlig eingenommen. Marty sucht erneut das Gespräch mit dem Psychiater, der aber unerreichbar bleibt. Ausgelöst durch diese Abweisung stürzt der Protagonist in mehrere Sinneskrisen gleichzeitig.

Bürgerliche Apokalyptik

Die gründlich recherchierte Figur eines Astrophysikprofessors hält die ganze Erzählung durch stand. Einiges an Fachwissen wird hineingestreut, wie der Start des revolutionären James-Webb-Teleskop, das im vergangenen Winter ins Weltall geschickt wurde. Der Roman ist strukturiert durch die stringente Handlung um den Protagonisten, wobei einige Rückblenden auf Martys Kindheit und Jugend das Konstrukt passend abrunden. Abgesehen von einigen inhaltlichen Wiederholungen ist es eine solide Erzählung, in welcher Sprache und Stil übereinstimmen. Das äussert sich in einem angenehmen Lesefluss. Die Erzählung ist bemüht, einen intelligenten, sein Fach über alles verehrenden, aber etwas prüden Wissenschaftler zu zeichnen. Das gelingt: Man nimmt Marty den langweiligen Akademiker ab, der zu lange in seiner Bubble gelebt hat, ohne mit seinem Umfeld – seiner Familie in erster Linie – ehrlich zu interagieren.

Ab und an breitet sich gar eine beunruhigende Stimmung aus, wenn der Protagonist in seinen Gedanken mögliche Weltuntergangsszenarien durchgeht: «Dieser kleine Nebenschauplatz, Erde genannt, war nicht mehr als ein Wimpernschlag, ein amüsanter Spielball in der Entwicklung des Universums, sie wird mit der Sonne sterben; bleiben werden ausgebrannte Sternenreste und Schwarze Löcher, und in spätestens zehn hoch hundert Jahren nicht einmal mehr das.»

Leerlauf vor dem Teleskop

Grösstenteils werden diese alarmierenden Momente aber überlagert von dem, was sich gerade alles so auf dem Erdball abspielt: Auf knappen 120 Seiten wird versucht, sämtliche gesellschaftlichen Brennpunkte der Gegenwart unterzubringen. Klimakrise, die Frage nach der Geschlechtsidentität oder die Machtstrukturen sozialer Medien sind nur die Spitze des Eisberges. Dieser Roman will so viel, dass er alles nur auf der Oberfläche ankratzen kann. Bis zum Ende der Erzählung deckt der Protagonist zwar immer mehr Probleme auf, schafft es aber nicht, auch nur eines davon zu lösen. Das wirkt sympathisch, menschlich, führt aber auch zu einigem Leerlauf. Martys scheinbar ganz individuelle Baustellen sind eigentlich alltägliche Sorgen, die überall dort auftauchen, wo Menschen miteinander zu leben versuchen. Der abgeklärte Astrophysiker, der bislang den Kopf über den Wolken hatte, wird von seinen irdischen Problemen eingeholt. Dem Leben, das sich immer weiterdreht, entkommt man auch nicht mit dem Blick durch das Teleskop in die unendliche Weite des Alls.

Zoë Jenny: Der verschwundene Mond. 150 Seiten. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2022. Ca. 29 CHF.

Zum Verlag