KW51

Den Krümeln der Lebensspur folgen

Was tut man, wenn man plötzlich vergessen hat, wer man eigentlich ist? In René Frauchigers Roman «Ameisen fällt das Sprechen schwer» muss sich die Hauptfigur diesem Problem stellen und sich in einem fremden, aber völlig normalen Leben zurechtfinden. Das Ziel ist, nicht aufzufallen.

Von Nathalie Fischer
20. Dezember 2022

In einem Zug Richtung Bern weiss eine Person plötzlich nicht mehr, wer sie eigentlich ist. Erst ein Blick ins Portemonnaie enthüllt: Man hat es wohl mit Peter Haller zu tun, einem Mann um die dreissig, wohnhaft in Bern. Doch statt Hilfe zu suchen, folgt er wie eine Ameise der aus einzelnen Hinweisen bestehenden Spur, die ihn schliesslich zurück in seine Wohnung führt. Dort angekommen entdeckt er, dass er eine Freundin hat. Diese registriert jedoch nicht, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Haller beschliesst, sich nichts anmerken zu lassen und weiter sein ihm unbekanntes Leben zu führen. Bei der Arbeit kann er sich durchschummeln, und selbst seinen besten Freunden fällt nichts auf. Haller gewöhnt es sich an, zu beobachten und daraufhin das von ihm erwartete Verhalten oder die angemessenen Worte zu liefern. Immer öfter hinterfragt er das Leben von Haller und ob er in diesem wirklich am richtigen Ort ist. Doch, wie René Frauchigers Roman schon im Titel es ankündet: «Ameisen fällt das Sprechen schwer».

Das eigene Leben – von aussen betrachtet

Ameisen sind keine Individualisten. Mittels chemischer Stoffe, sogenannter Pheromone, zeigen sie den anderen Ameisen beispielsweise an, wo sie Nahrung finden können. Haller fühlt sich häufig so, als würde er selbst einer Spur folgen. Mittels ID, Akten und Fotos versucht er sein Leben zu rekonstruieren.  Dabei folgt er den einzelnen Krümeln, ohne wirklich davor Angst zu haben, dass er auffliegt. Immer häufiger hat Haller das Gefühl, dass er nicht im richtigen Leben ist, sondern dass er einer falschen Fährte, einer falschen Ameisenstrasse folgt. Frauchiger hat seinen Protagonisten vom vorgespurten Weg abgebracht. Haller muss sich nun damit auseinandersetzen, ob er in der sicheren Spur bleiben oder von dieser lösen will. Seine Überlegungen bringen auch die Lesenden dazu, das eigene Leben von aussen zu betrachten und sich mit den persönlichen Träumen, Wünschen und verpassten Chancen auseinanderzusetzen: «Schöner Gedanke, in einem Buch bereits Gedachtes vorzufinden, das man nur noch mitdenken musste.»

René Frauchiger ist auch als Journalist und Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten tätig. Dies wirkt sich in einem teilweise abgehackt wirkenden Schreibstil auch auf seinen zweiten Roman aus. Viele Sätze sind kurz, was aber Hallers schnelles, vor allem am Anfang wohl panisches Denken widerspiegelt. Die eingestreuten Helvetismen oder Sprache der Figuren zeigen, dass es sich bei Haller um einen durchschnittlichen Schweizer Bürger handelt, mit dem man sich identifizieren kann. Dies schafft eine Verbindung zwischen Leserschaft und Figuren und führt dazu, dass sich auch die Lesenden automatisch die Frage stellen, wie sie selbst an Hallers Stelle reagieren würden.

Frauchiger widmet sich auch der Frage, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren. «Vielleicht war man nur frei, wenn man das sagte, was alle sagten, und auch das dachte, was alle dachten. […] Sobald man lügen musste, sobald man widersprach, trennte man sich von der Welt und war allein. Die Wahrheit war, was alle dachten, die Lüge das Versteckte.» Die Menschen um Haller sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie bemerken, was mit ihm los ist. Die zwischenmenschlichen Kontakte stellen Haller trotzdem immer wieder vor Herausforderungen und er muss sich Strategien zulegen, um diese Situationen zu meistern.

Wie Ameisen sprechen

Getreu dem Titel des Romans sucht die Ameise Haller krampfhaft Themen – beispielsweise aus den Nachrichten – bei denen er mitreden kann. Man hält inne und erinnert sich an die Situationen, in denen man selbst auf diesen oberflächlichen Kniff zurückgegriffen hat. Spielen wir alle immer eine Rolle, je nach dem, in welcher Position wir uns befinden oder mit wem wir zusammen sind? Frauchiger hält den Lesenden zusätzlich den Spiegel vor, indem er gelegentlich das Wort «er» durch «man» austauscht.

Zum Autor

René Frauchiger, geboren 1981 im schweizerischen Madiswil. Lebt in Basel und arbeitet als Audiopädagoge. Er ist ausserdem für die Werkstätten des Aargauer Literaturhauses Lenzburg zuständig. Er ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, die in diversen Zeitungen und Literaturzeitschriften erscheinen, sowie Gründer und Mitherausgeber des narrativistischen Literaturmagazins «Das Narr». 2016 wurde er mit dem Werkbeitrag des Fachausschusses Literatur Basel ausgezeichnet.

Das im Vorwort erwähnte Phänomen der «Ameisenmühle», bei der Ameisen auf die eigene Spur stossen und solange im Kreis laufen, bis sie sterben, kann als Allegorie auf das menschliche Leben verstanden werden. Aus dem von der Gesellschaft vorgeschriebenen Weg auszubrechen, braucht viel Kraft und lässt die betroffene Person isoliert zurück. Hier kann verstanden werden, weshalb Haller plötzlich an Realitätsverlust und psychotischen Tendenzen leidet. Diese passen sonst nicht zum Grundton des Romans. Als Leser:in fragt man sich deshalb, weshalb Haller nicht spätestens hier professionelle Hilfe sucht. Frauchiger liefert auch keine plausible Erklärung, weshalb Haller sich nicht seinen Freunden oder zumindest seiner Freundin anvertraut. Man bedauert den Protagonisten, der offenbar einsam ist – und auch sein will – und kann sich aber doch nicht recht mit ihm identifizieren.

Tatsächlich will Frauchigers Roman gar nicht herausfinden, weshalb Haller sein Gedächtnis verloren hat oder wie er es wiedererlangt. Der Autor interessiert sich stattdessen dafür, was für ein Leben man bisher geführt hat, und ob man diesem weiter folgen will. Der Schluss lässt deshalb die Lesenden auch ohne Antwort zurück. Vieles muss sich die Leserschaft selbst zusammenreimen. Das werden nicht alle mögen. Man sollte sich aber die Frage stellen: Braucht es überhaupt eine Antwort?

René Frauchiger: Ameisen fällt das Reden schwer. 113 Seiten. Olten: Knapp Verlag 2022. Ca. 26 CHF.

Zum Verlag