KW10

«Der Welt so nahe wie einem gemalten Bühnendekor»

Bärfuss Salm

Dana Grigorceas drittes Buch ist eine sommerliche Zürich-Novelle, die nicht ganz zufällig im tiefsten Winter erscheint.

Von Christoph Steier

«So kannst du jetzt im Winter tanzen», faucht die Ameise in Äsops bekannter Fabel, als die Heuschrecke nach verfideltem Sommer um Almosen bittet: «Bringt doch das Faulenzen kein Brot ins Haus.» Zweieinhalb Jahrtausende ging das als – wenn auch immer etwas zweifelhafte – Moral durch, ehe Leo Lionnis Kinderbuch Frederick 1967 die Dinge etwas gerader rückte: Auch die künstlerische Ernte will eingebracht sein und vermag den emsigen Anderen über den Winter zu helfen.

Vorsaison

So mutet es nur auf den ersten Blick ironisch an, dass Dana Grigorceas sommerlich-leichte Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen ausgerechnet im kältesten Zürcher Winter seit langem erschienen ist. Die Geschichte der arrivierten, in der eigenen Bio-Choreographie erstarrten Balletttänzerin Anna und ihres noch einmal aufbrechenden Lebenshungers feiert zwar den flirrenden Sommer «in einer der schönsten Städte der Welt», bleibt stilistisch jedoch stets um einen kühlen Kopf bemüht: Wie schon das nicht nur im Titel, sondern in der gesamten Handlungsführung erkennbare Vorbild von Anton Tschechows diskreter Affären-Novelle Die Dame mit dem Hündchen gibt die 1979 in Bukarest geborene Autorin sehr deutlich lesen, dass gerade das vermeintlich Schwebende literarische Schwerstarbeit ist. Kein Sommerbuch für die Badi also, sondern ein poetologisch durchgearbeiteter Versuch darüber, woher wir, «wenn/Es Winter ist, die Blumen, und wo/Den Sonnenschein,/Und Schatten der Erde» (Hölderlin) nehmen. Und welcher Anstrengungen das bedarf.

Zur Autorin

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Für ihren 2021 erschienenen Roman «Die nicht sterben» war Grigorcea für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet.
Foto: © Lea Meienberg.

Pas de deux

Wie im Ballett besteht der Reiz der Novelle nicht zuletzt darin, die eigene formale Strenge spielerisch vergessen, aber nicht ganz unsichtbar zu machen. Die erste Hebefigur wird von Grigorcea mit leichter Hand gemeistert. Das Vorbild Tschechow wird auf den Kopf gewuchtet, dürfen doch bei Grigorcea Tschechows älterer Liebhaber Gurow und die kaum zwanzigjähre Anna aus Petersburg die Rollen tauschen: Aus Gurow wird Gürkan, ein junger Gärtner mit kurdischen Wurzeln, der die deutlich ältere, im Herbst ihrer Karriere stehende Tänzerin auf ihr Hündchen anspricht und sich schon kurz darauf mit ihr im «alten VW Käfer» am Zürcher Goldküstenufer wiederfindet. Aus Tschechows Sommerfrische auf der Krim wird ein sorglos verbummelter Sommer am heimischen See, wobei sich die Autorin wie schon Tschechow weniger für die Stelldicheins, geschweige denn für die Psyche der Verliebten interessiert als vielmehr für ihre Streifzüge durch die aufblühende Stadt. Ein Bewegungstext also, der weniger nach Beweggründen fragt als nach den literarischen Schlag- und Streiflichtern, die dabei am Wegesrand aufblitzen. Panta rhei, um es mit dem Namen des grössten Zürichseeschiffs zu sagen. Dieses Fliessen ist poetisches Programm. So geht es beispielsweise mit der Handlung verlässlich bergab, je weiter sich Anna und Gürkan vom Wasser entfernen, und auch die beiden Liebenden werden kaum je isoliert, sondern bevorzugt im Strom der Menge präsentiert. In diesem Strom indes sind sie ganz beieinander, und so verwundert es nicht, dass Anna der zwar notorisch überfüllten, aber ohne Gürkan besuchten Stadt Venedig bald überdrüssig wird und nach Zürich zurückkehrt.

Kulissen

Diese ganz und gar nicht inwendige Poetik der Bewegung muss man mögen bzw. verstehen, um sie mögen zu können. Denn das Wenige, das wir von Anna erfahren – zum eigenen Bild erstarrte Arztgattin, weltläufige Immigrantin, geübte Liebhaberin, routinierte Tänzerin, Champagnertrinkerin – lohnte kaum den Aufwand, den die ohnehin schmale Erzählung betreibt. Vom angeblich leidenschaftlichen und schönen, aber doch eher verschlossen bis kleinlich erscheinenden Liebhaber ganz zu schweigen. Und auch um die detailreich gewürdigte Stadt geht es nur am Rande. Denn ehe man ob der penibel wie sonst nur in Sunil Manns Zürich-Krimis aufgelisteten Strassen, Kreuzungen, Plätze, Ufer und Hausberge zu zweifeln beginnt, ob Roland Barthes mit seinem Effet de réel nicht lediglich eine sehr vornehme Erklärung für Zeilenschinderei geliefert hat, knipst die philologisch geschulte Autorin selbst das Licht an:

«Als sie an der Ilgenstrasse ausstieg und über den Römerhof zur Asylstrasse hinaufschaute, war sie der Welt so nahe wie einem gemalten Bühnendekor, vor dem sich bei gedimmtem freundlichen Licht das Liebespaar zu treffen hat.»

Das Kulissenhafte der ganzen Erzählung, die notabene nicht mit Seitenhieben auf das eher dekorative Kunstbedürfnis der besseren Kreise und den Alltagsrassismus populärer Darbietungen spart, findet sich hier zur Kenntlichkeit entstellt. Nicht im Sinne einer gar ideologiekritischen Ent-Täuschung, sondern als eher melancholische Reflexion des eigenen Lassens und Tuns.

Trost und Manier

Dem «gemalten Bühnendekor», das allein die Farben in den Winter hinüberrettet, seine Künstlichkeit abzulesen, wird Anna und ihrer Leserschaft als erster Schritt zu einer tieferen ästhetischen Erfahrung angedient. Denn Kunst und Kultur erscheinen Anna nicht erst, als sie am Buch vorbei auf den See schauen möchte oder nach einer Zweisamkeit jenseits formaler Perfektion sucht, als eher fahle Ablenkungsmanöver. Vor ihren Schwierigkeiten, die  «Schönheit zu fassen», flüchten die Menschen laut Anna nur allzu willfährig ins «Geplauder» und «Lesen von allerlei Belanglosem». Simmels Tragödie der Kultur lässt, auch ein Jahrhundert später, freundlich grüssen.

Das gelegentlich ins Parodistische gleitende Manierierte der Novelle dürfen wir uns in diesem Sinne getrost als Wink vorstellen, den Blick gelegentlich rechts und links an den Büchern vorbeischweifen zu lassen. Womit auch das sehr handliche Format der Hündchen-Novelle seinen tieferen Sinn enthüllt. Wo indes diese Seitenblicke nichts als Kälte und Öde liefern, auch das führt Dana Grigorcea ebenso souverän wie nachsichtig vor, tut es einen harschen Winter lang auch die Kunst. Zumal jene, die ihre eigene Kunstfertigkeit zu überspielen, nicht aber zu leugnen vermag.

Dana Grigorcea: Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen, Zürich: Dörlemann 2018, 22 CHF.

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