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Crashing into Mittelland

In János Mosers erstem Roman «Im Krater» bebt es, bevor sich die Erde auftut. Mit diesem (nicht nur) metaphorischen Erbeben einer Schweizer Kleinstadt rüttelt Moser an den Verankerungen seiner Figuren, erprobt die Durchlässigkeit von Gattungsgrenzen und stellt Diskurse aus.

Von Ann-Sophie Bosshard
26. Februar 2018

Handlungskrater

Der Krater begegnet den Leser*innen zuerst in der Romanhandlung: Der Geologe Louis Girard reist mit seinem Sohn Mathieu in eine unbenannte Schweizer Kleinstadt. In der Tasche hat er ein Stück Suevit, das vom ebendiesem Ort kommt – eine Gesteinssorte, die bei enorm hohen Temperaturen entsteht, wie sie etwa bei einem Meteoriteneinschlag auftreten können. Dies führt Girard zur Vermutung, dass die Kleinstadt am Rande eines kosmischen Kraters stehe. An dieser These hängt nicht nur das Interesse des Geologen, sondern auch sein universitärer Ruf als Wissenschaftler, den er gegenüber seinen Rivalen behaupten will. Als Girard seine Vermutungen einigen Bewohnern der Stadt mitteilt, reagieren diese äusserst unterschiedlich: Während die mysteriöse Gräfin Nowak Girard verbietet, auf ihrem Grundstück Untersuchungen durchzuführen und der Kurator Reinhardt um die Subventionen und den Erhalt seines Kunsthauses fürchtet, plant Bürgermeister Frauchiger sogleich, aus der vermeintlichen Sensation Profit zu schlagen. Nicht umsonst ist Girard wegen dieser Entwicklungen und mit Blick auf die Zukunft beunruhigt, denn vorerst findet er keine weiteren Suevitstücke. Darüber hinaus ist das Verhältnis zu seinem Sohn zunehmend angespannt, beim Geologen wird eine seltsame Krankheit diagnostiziert und eine Reihe an unheimliche Ereignissen tritt ein. Einzig die freundliche, aber geheimnisvolle Tramchauffeuse Mina ist ein Lichtblick in der kleinbürgerlichen Welt der Stadt. Je mehr sich die Situation zuspitzt, desto mehr rücken drei Frauen – neben der Gräfin Nowak und Mina ist da noch eine eulenhafte Waldfrau – ins Zentrum der erzählten Welt, erst recht, als Moser zwei Märchen einschiebt: Eines davon ist unvermittelt typographisch abgehoben, das andere wird von Mina erzählt. Schliesslich kann sich auch der nüchterne Girard nicht mehr länger gegen die unheimlichen Ereignisse wehren und wird hineingezogen in einen Strudel aus chthonischer Destruktivität, in dessen Zentrum ein ausserirdischer Golem die kleinbürgerliche Welt aus ihren Fugen reisst.

Gattungskrater

Mosers in die drei Teile Eintritt, Impakt und Golem gegliederter Roman entwickelt sich so vom realistischen zum fantastischen Text, ohne aber dabei ins Schemenhafte zu verfallen. Wie Franz Rottensteiner im Nachwort konstatiert, orientiert sich Moser an Autoren wie etwa H. P. Lovecraft und bedient sich ausgiebig im literarischen Archiv. So führt er verschiedene wohlvertraute Narrative ein – vom Entwicklungsroman über märchenhafte Prüfungen bis zum Angriff Ausserirdischer. Es ist die grosse Stärke des Romans, dass es Moser gelingt, diese altbekannten Elemente innovativ zu kombinieren. So ist etwa die seit dem Mittelalter bekannte Lehmfigur Golem zwar auch bei Moser entsprechend den Legenden an die chthonisch-destruktive Sphäre gebunden, entstammt aber ursprünglich dem fernen Weltall. Diese moderne Verknüpfung von Elementen der Fantasy-Literatur und der Science-Fiction führt zu einem Roman, der sich aber vor allem durch seine kleinstädtische Verankerung durchgehend realistischen Aspekten verpflichtet. Gleichzeitig kann Moser durch diese Mischung mit den Lese-Erwartungen in Bezug auf die verschiedenen Narrative spielen, indem er unerwartet neue Erzählschichten hinzufügt, in denen sich die Handlung dann entfalten kann. Somit ist der Zugriff auf die Realität durch den Erzähltext fortwährend ungewiss und damit auch spannungsvoll.

Zum Autor

János Moser, 1989 in Aarau geboren und in Suhr aufgewachsen, studierte Germanistik und Geschichte in Bern, Berlin und Zürich. Für seine Prosa bekam er 2011 erstmals einen Werkbeitrag des Aargauer Kuratoriums zugesprochen. Zwei seiner Erzählsammlungen, «Das Kaninchen und der Stein» (2012) und «Der Graben» (2015), erschienen in der «Reihe» des Wolfbach-Verlags. Im Februar 2016 feierte sein Theaterstück «Der weiße Kalong» in Aarau Premiere. Mit «Im Krater» veröffentlichte er 2017 seinen ersten Roman. «Der Leopardenmeister» ist Mosers dritter Erzählband.

Diskurskrater

Die Verbindung von realistischen und nicht-realistischen Elementen kommt auch im Diskurs über das Verhältnis und den Wert von Naturwissenschaft und Kunst zum Tragen. Es ist dieser Metadiskurs, der den Roman durchzieht und dessen «Gegenpole» beinahe allegorisch durch Louis Girard und seinen Sohn Mathieu verkörpert werden. Mathieu steht auf der Seite der Kunst, ist ein gescheiterter Philosophiestudent, spielt stundenlang Klavier, freundet sich mit russischen Künstlern an und verliebt sich tragisch. Louis Girard hingegen hält sich durch und durch für einen Naturwissenschaftler und bringt der Kunst geradezu Verachtung entgegen. Seine einzige Lektüre ist – ironischerweise – das Mineralmagazin Lapis, das in seiner banal-naturwissenschaftlichen Trockenheit geradezu metonymisch für die Figur Girard steht.

Verstanden werden diese beiden Sphären hier aber nicht als komplementäre, sondern als graduelle Antonyme, die sich im Romanverlauf allmählich annähern. Und dann kommt noch ein drittes Element dazu: die Magie. Während sowohl Kunst und Wissenschaft klar männlich besetzt sind, wird die Sphäre des Magischen – klassisch – als die weibliche dargestellt und von den drei Frauen verkörpert. Leser*innen, die gerade in Bezug auf den erwähnten Diskurs durchaus zu einem eigenen Standpunkt angeregt werden, werden durch die fantastischen, märchenhaften Elemente des Romans gleichzeitig auf Abstand gehalten. Krater erscheinen zwischen den Figuren und zwischen den realistischen und nicht-realistischen Elementen, die auch der Leser nicht überbrücken kann – der Titel wird programmatisch.

Moser stellt in seinem Roman eine auf den ersten Blick simple, auf den zweiten jedoch komplexe Stadt dar, deren Mikrogeschichte durch die ausserirdisch-magische Makrogeschichte ergänzt wird. Diese Makrogeschichte gibt dem Roman eine Tiefe, die allein durch die Figuren nicht zu haben ist – und vielleicht auch nicht erreicht werden will. Im Krater ist ungewöhnlich, unheimlich, erstaunlich.

János Moser: Im Krater. 165 Seiten. Frauenfeld: Waldgut 2017. 28 CHF.

Zum Verlag