KW27

«Irgendwann kippt das – und die Dinge erhalten die Oberhand»

Nachdem Gianna Molinari bei den letztjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet worden war, erscheint in zwei Wochen nun beim Aufbau Verlag ihr Romandebüt «Hier ist noch alles möglich». Das Buchjahr hat die Autorin getroffen - ein Gespräch über das Leben im Offenen.

Von Redaktion Buchjahr
2. Juli 2018

Gianna, einen Ausschnitt aus Deinem Debüt kennt man schon vom letztjährigen Bachmann-Preis. Der Text lief damals unter dem Titel «Loses Mappe», im Roman trägt diese Mappe die Aufschrift «M.d.v.H.f.».

Ja, der «Mann, der vom Himmel fiel». Das geht zurück auf einen gleichnamigen Radiobeitrag von Christoph Keller, der wiederum auf einem realen Ereignis beruhte.

Auf den aus dem Fahrwerkschacht eines Flugzeugs gefallenen Mann, dessen Leichnam man 2010 bei Weisslingen gefunden hat.

Mich hat die Geschichte sehr berührt. Da ist zum einen die Wahl dieses selbstmörderischen Fluchtweges und die damit verbundene Frage, ob die Person sich der geringen Überlebenschancen bewusst war. Zum anderen interessierten mich die Reaktionen, die solch ein Ereignis in einer Gesellschaftsordnung freisetzt. Faktisch mündete dieser Sturz in einen bürokratischen Wahnsinn, der sich in der Verwaltung der Habseligkeiten des Verstorbenen und der Kostenübernahme für sein Begräbnis zeigte. Zuletzt hat mich aber auch die narrative Ausgestaltung dieses Ereignisses bei Christoph Keller fasziniert: Ein Namenloser fällt einem im wahrsten Sinne des Wortes vor die Füsse und obwohl er geschichtenlos war, bekam er – durch Keller – eine neue Geschichte. Es ist diese Rekonstruktion von Identität eines identitätslosen Menschen, die mich interessiert hat.

Denkst du, dass die Literatur durch ihr Potential, epistemische Leerstellen durch fiktionale Geschichten zu auszufüllen, dem, was in der sozialen Realität repräsentationslos bleibt, eine Art Gerechtigkeit widerfahren lassen kann?

Ich hatte sicher nicht den Anspruch, dieser Person gerecht zu werden, das steht mir nicht zu. Die Geschichte des Mannes, der vom Himmel fiel, sehe ich als ein Symbol unserer Gesellschaft, in der unzählige namenlose Menschen auf der Flucht sind. Ich würde zwar nicht sagen, dass mein Buch die Flüchtlingsthematik ins Zentrum stellt. Vielmehr war es mir wichtig darüber nachzudenken, wo man heute leben will respektive leben darf oder kann. Insofern hat Literatur natürlich das Potential, hochpolitisch zu sein, indem sie Sprachlosen eine Sprache, Namenlosen einen Namen gibt, Unsichtbares sichtbar macht.

Der Topos des vom Himmel gefallenen Mannes – ein Topos, der ja seit Nic Roeg und David Bowie auch auf seltsame Weise in der Popkultur fest verankert ist – wird nun in «Hier ist noch alles möglich» gerahmt. Verschaltet wird die faktengestützte Erzählung eines unmöglichen Lebens mit einer Romanwirklichkeit, die gerade die Offenheit erzählter Räume ausstellt. Wie verhalten sich diese beiden Welten zueinander?

Ein Grundthema des Romans ist in der Tat der Umgang mit Wirklichkeit. Wie lässt sich die Wirklichkeit weiterführen und wie spielen Fakt und Fiktion zusammen? Die Literatur besitzt viele Möglichkeiten, mit dieser Dichotomie zu spielen und umzugehen. Die Idee war dann eben auch nicht, die Geschichte des vom Himmel gefallenen Mannes einfach noch einmal nachzuerzählen, sondern vielmehr die Möglichkeitsräume zu erkunden, die dieses Faktum eröffnet. Was wäre wenn, was ist möglich, was ist unmöglich? Die Fotografien und Skizzen, welche im Buch eingelassen sind, führen diese Reflexion fort. Sie sind dokumentarisches Material, das durch den Kontext der Literatur jedoch das Dokumentarische überwindet und selbst fiktionalisiert wird. Es reizt mich, diese Grenzen auszuloten und damit zu experimentieren, was Sprache in diesem Spannungsfeld zwischen diesen zwei Polen vermag, was weshalb funktioniert und was nicht.

Zur Autorin

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte von 2009 bis 2012 Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa 2012 am Literarischen Colloquium Berlin und erhielt im selben Jahr den Preis sowie den Publikumspreis des 17. MDR-Literaturwettbewerbs. Bei den «Tagen der deutschen Literatur» 2017 in Klagenfurt wurde sie für einen Auszug aus ihrem Debüt «Hier ist noch alles möglich» mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

Die Ich-Erzählerin der Rahmenhandlung ist selbst eine geschichtslose Figur, die ihre Leerstelle mit Imagination und den Geschichten Anderer füllt. Gleichzeitig stellt sie minutiös genaue Beobachtungen an und schildert diese in ausführlicher Akribie. Auch in dieser Figur also findet sich jene Verbindung von Fiktion und Wirklichkeit.

Für die Erzählung ist es sehr wichtig, dass die Figur ein leeres Blatt ist. Sie zieht in einen leeren Raum einer Fabrik und erfasst allmählich ihr Umfeld mittels Fotografie, Skizzen und einem Lexikon. Im Dokumentieren ihres Umfeldes wie auch durch die Geschichten der anderen Figuren erschafft sie sich ihre Identität und wird damit erst zur Figur. Dabei übernehmen gerade die Bilder, die Ausgangspunkt des Textes waren, eine wichtige Funktion sowohl für die Figur der Ich-Erzählerin als auch für die Leser*innen: An ihnen erweist sich, dass man die Welt aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Genau genommen wird das Sehen durch dieses Arrangement selbst zu einem zentralen Topos des Textes.

Inwiefern?

Einerseits wird das Wegschauen als Verdrängungsstrategie angesprochen. Andererseits findet sich in dem Text auch ein erwartungsvolles Sehen, das sich nach der Ankunft von etwas Neuem sehnt. Vermittelt durch den Blick der Ich-Erzählerin wird sichtbar, was gewöhnlich unsichtbar bleibt: Unspektakuläre Nebenschauplätze und Nebenfiguren, wie auch Schmerzhaftes und Unangenehmes, das verdrängt wird.

Wird man als Leser*in in diesem Buch gezwungen hinzuschauen?

Gezwungen vielleicht nicht, aber im besten Fall wird eine Reflexion über das Sehen und Wegsehen angestossen. Meine Hoffnung ist, dass die Literatur uns befähigt, dort hinzuschauen, wo niemand hinschaut, dass sie sichtbar machen kann, was unsichtbar bleibt.

Neben dem Sehen spielen ja Räume auch eine zentrale Rolle in deinem Buch. Man kann sagen, dass der Text das Thema Raum in einer geradezu dialektischen Art und Weise verhandelt.

Absolut. In einem weiteren Sinne thematisiert der Text die Möglichkeiten des Schreibens überhaupt, die Frage, wie Welt, Figuren, Raum entsteht. «Raum» ist für mich hier stark mit «Schreibraum» besetzt. Die Figur der Ich-Erzählerin erschafft sich ihren eigenen Raum und interessant ist, wie sie darauf reagiert, vor allem auf die Elemente, die später von aussen in diesen Raum treten, die diesen wiederum verändern.

Da sind wir natürlich sehr stark beim «New Realism» und seiner Grundüberlegung, dass erst der Raum, in den wir eingelassen sind, uns Sprache gibt. In Deinem Text wird das dialektisch gewendet: Erschriebene Räume, Topographien – aus denen sich aber das Erzählen erst wieder herleitet.

Ja, das ist schon eine interessante Angelegenheit. Es geht da um die Eigendynamik des Erzählens: Auch beim Schreiben kann man Dinge vorgeben, aber irgendwann kippt das und die Dinge erhalten die Oberhand, auch was die Sprache betrifft. Dieser Mechanismus findet sich auch auf der Ebene von Wirklichkeitskonstruktion wieder.

Diese Raumimaginationen in deinem Buch lassen sich auch auf eine zeitliche Achse kippen: Es werden Räume aufgemacht, die den Einbruch von etwas Neuem, von Ereignissen versinnbildlichen. Thematisiert das Buch nicht auch stark, was an sozialen und politischen Strukturbrüchen noch möglich ist?

Jedes Ereignis verändert etwas an der Struktur. Die einzelnen Elemente in einem System verschieben sich und reagieren auf Veränderung, somit bewegt sich immer etwas. Die Frage, die das Buch in diesem Zusammenhang aufwirft, ist, ob man aus diesen Strukturen wirklich ausbrechen kann. In dem Roman bleibt das auf jeden Fall offen.

Diese Offenheit ist im Text ja nicht einfach so da, sondern ganz unzweifelhaft ist sie ja auch mit einem Opfer verbunden. Die Protagonistin gibt für das Leben in diesen rudimentären Räumen ja auch etwas auf, sie wählt die Arbeit im Sicherheitsdienst einer zugrunde gehenden Kartonagenfabrik ja auch aus einer gewissen Verzweiflung heraus.

Sie versucht, durch das Aufspüren der Möglichkeiten, der Geschichten anderer Leute – zu denen eben auch «Loses Mappe» gehört – eine Leere zu füllen. Und sie versucht für sich zu definieren oder neu zu definieren, was wichtig ist und was nicht. In diesem Sinne ist es eine Suche nach ihrem eigenen Bezug zu Welt.

Diese Unbestimmtheit und Leere kennzeichnet ja auch die anderen Figuren, die man auf diesem Gelände antrifft.

Ja, aber gleichzeitig ist es doch so, dass mit allen etwas geschieht, dass in der Begegnung, in der Bewegung durch diesen Möglichkeitsraum sich diese Figuren verändern. Der Aufbau einer Welt formt auch diejenigen, die sie aufbauen, und für die Ich-Figur gilt das natürlich in besonderem Masse.

Am Ende findet diese sich in einer Fallgrube wieder, die sie selbst gegraben hat.

Ja, in der Fallgrube wird sie zu ihrer eigenen Gefangenen und gleichzeitig eröffnet sich hier auch ein Möglichkeitsraum: Was wäre, wenn ich weiter und weiter graben würde. Der Wunsch zu verschwinden ist auch der Wunsch nach einem Ausbrechen und nach Verwandlung.

Wie eng wäre dieser «Ausbruch» denn verknüpft mit dem Regress ins Animalische? Tiere sind in Deinem Text ja recht präsent und die Erzählerin ist in der Sinnhaftigkeit ihrer Existenz ja nicht von ungefähr an die Existenz eines Wolfs geknüpft.

Es bestehen viele Bezüge der Erzählerin zum Wolf. Wie der Wolf, dringt auch die Erzählerin in Gebiete vor. Und beide sind auf eine gewisse Art und Weise Phantome, sichtbar und unsichtbar, definiert und Projektionsfläche für Definitionen und Zuschreibungen anderer. Auch stellt sich die Frage, ob sie Bedrohung oder selber bedroht sind. In dieser Spiegelung findet ein Regress ins Animalische statt.

Die Fabrik ist ja ein Umfeld, das von der Natur zurückerobert wird. Sie wird von Unkraut überwuchert und die Wölfe kommen. Dieser Umstand wirft Fragen nach der Beständigkeit von Zivilisation auf. Das Animalische bedroht das Bestehende und ist gleichzeitig in seiner Intensität und Wildheit mit der Idee von Freiheit und Selbstbestimmung verknüpft.

Das Spiel mit untergründigen oder pararealen Räumen scheint gerade ein bestimmendes Moment in den Texten von Schweizer Gegenwartsautorinnen von Dorothee Elmiger über Martina Clavadetscher und Julia Weber bis hin zu Judith Keller zu sein. 

Ich glaube, dass die Erschaffung von Räumen und Möglichkeiten viel mit unserer Gesellschaft zu tun hat. Die Grenzen von realen und fiktiven Räumen werden heute so schnell überschritten wie noch nie. Die Idee von Raum ist in einem bedeutenden Wandel und das zeigt sich deutlich im Schreiben.

Hast du denn schon literarische Zukunftspläne?

Ich werde jetzt für einen Monat nach Berlin gehen, um an meinem neuen Buch zu schreiben. Konkrete Ideen habe ich nicht, es ist also auch hier noch alles möglich.

Das Gespräch führte Shantala Hummler.

Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. Berlin: Aufbau Verlag 2018, 192 S., ca. 23 CHF. Erscheinungstermin 13.7.2018.

Zum Verlag

Weitere Bücher