KW25

Bis es nicht mehr geht

Lutz Buchjahr

Barbara Lutz' zweiter Roman «Keinen Seufzer wert» erzählt ausgehend von historischen Gerichtsakten eine Kriminalgeschichte aus der strengen und kargen Welt des bäuerlichen Emmentals der frühen 1860er Jahre. Unter Vorwegnahme des unglücklichen Ausgangs entfaltet die ausgebildete Ethnologin geduldig die lange Reihe von Gemeinheiten und kommunikativen Versäumnissen, die zur Eskalation führen.

Von Marco Neuhaus
18. Juni 2018

Die ärmliche Familie Wyssler kommt zur Miete beim entfernt verwandten Res Schlatter auf dem Schafberg unter. Selbiger erweist sich rasch als frömmlerischer, von Angst und Ressentiments zerfressener Heuchler und Menschenfeind. Vater Wyssler hingegen ist ein Duckmäuser, der die Faust im Sack macht, statt sich Gehör zu verschaffen. Seine Frau Verena bemüht sich als Einzige, Res laufend die Stirn zu bieten.

Das kommt nicht gut

Man erfährt schon zu Beginn: Das kommt nicht gut, wie es in der an Gotthelf geschulten Sprache des Romans heissen könnte. Diese Sprache gehört denn auch zu den Stärken des Buchs und trägt massgeblich dazu bei, der fremd gewordenen Bauernwelt Plastizität zu verleihen. Sie versucht nicht, das dialektale Sprechen der Figuren unvermittelt zu reproduzieren. Ländliche Helvetismen und knappe Hauptsätze vermitteln aber einen Eindruck von Tempo und Reichweite dieser Sprache. Es ist die sparsame, zurückgenommene Sprache wortkarger Menschen: Hier gilt es als «Stürmen», mithin als gottlos, viel zu reden. Entsprechend fehlt diesen zwangsweise unsentimentalen Figuren das Vokabular, überhaupt zu artikulieren, wie es ihnen geht oder was ihnen fehlt. An die Oberfläche dringt ein fast begriffsloses Unbehagen, eine Enttäuschung über das Leben: «Es scheint Verena manchmal, wie wenn dies nicht ihr Leben wäre. Das wirkliche Leben wird noch kommen, was jetzt ist, zählt nicht, sagt ein Gefühl

Zur Autorin

Barbara Lutz, 1959 in Dornbirn geboren, studierte Ethnologie in Wien und Bern. Sie arbeitete und forschte auf verschiedenen Kontinenten, in der Entwicklungszusammenarbeit und im Migrationsbereich. 2013 erschien ihr Roman «Russische Freunde» im Limmat Verlag. Barbara Lutz lebt bei Bern.

Die versäumte Rede

Genau so sehr wie ums Sprechen und die Sprache, und darum, was damit transportiert wird, geht es in «Keinen Seufzer wert» darum, was man verschweigt, nicht zu sagen wagt oder weiss. Als etwa ein Kätzchen erschlagen daliegt, ergehen sich die Figuren in gegenseitigen Verdächtigungen, statt nachzufragen: «Es kam der Tod der Katze niemals zur Sprache zwischen ihnen. Deshalb betrachtete Annelies den Res mit Grauen und dachte Res, Verena hätte es aus Feindschaft wider ihn getan.» Solche Szenen versäumten Sprechens gibt es hier immer wieder; sie unterstreichen das Kontinuierliche dieses Zermürbungsprozesses. Gleichzeitig wird so aber auch die Banalität, das eigentlich Vermeidbare jedes Zwischenschritts fühlbar. Mit sicherer Hand zeichnet Barbara Lutz nach, wie die Gemeinheit in die alltägliche Selbstverständlichkeit übergeht, in den Lauf der Jahreszeiten und die mit detaillierter Präzision geschilderte harte Arbeit. Bis es dann nicht mehr geht.

Ein politischer Roman

Die Erzählung genügt sich aber nicht als Milieustudie oder psychologisches Mahnbeispiel, sondern wird auch allenthalben mit politischem Subtext aufgeladen: Am gelungensten, weil am vielschichtigsten erweist sich das in der Verdichtung nationalmythologisch vereinnahmter Topoi – Bauerntum, Radikale, das (hier trügerische) Versprechen von Solidarität zumindest unter «den eigenen Leuten». Auch wenn die Emmentaler*innen sich darüber ereifern, wie Fremde bei der Arbeit den Ortsansässigen scheinbar vorgezogen werden, während sie selbst den ortsansässigen Mitmenschen in erster Linie mit Misstrauen und Neid begegnen, dann bleibt kein Geheimnis, an welche politische Adresse das geht. Auch wo es um die Verachtung von «Hungerleidern» geht oder gar von Steuerpolitik die Rede ist, sind wir nachdrücklich eingeladen, jüngere politische Debatten gespiegelt zu sehen. Das fügt sich nicht immer subtil in den Erzählfluss; was jedoch gerade deshalb auffällt, weil der Text insgesamt durch Subtilität zu gewinnen vermag.

Ethnologisches Erzählen

So spart der Roman fast durchgehend aus, was sich als Höhepunkt anbieten würde und leicht für einen Knalleffekt zu haben wäre. Verbrechen, Geburten, Entgleisungen werden verknappt vorweggenommen oder nachgereicht, oder wir bekommen sie nur indirekt, vermittelt oder von Weitem mit. Das ist selbstbewusster, methodischer Verzicht aufs Effekthascherische. Solchen kann Barbara Lutz sich leisten, weil sie mit sicherer Hand Tempi führt und ein scharfes Auge für die richtige Nähe oder Distanz zu ihren Figuren und deren Welt hat. «Keinen Seufzer wert» ist kein Roman über die eruptiven Ereignisse, die Mörder*innen vor Scharfrichter bringen, sondern über das Kontinuum von Alltagswelt und Alltagspraxis, aus dem solche Eruptionen erst herausragen können wie alpine Gipfel aus Nebelmeeren.

Barbara Lutz: Keinen Seufzer wert. Roman. Zürich: Limmat Verlag 2018, 240 S., 28 CHF.

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