KW26

Erzählen vom Pferd

Rochat

«Petite Brume» - so heisst das Ross. Jean-Pierre Rochats jüngster (und bereits mit einigen Lobeshymnen bedachter) Roman nimmt uns mit auf einen Tagesritt durch die Welt einer untergehenden Lebensform.

Von Agathe Herold
25. Juni 2018

Alles beginnt mit einer öffentlichen Versteigerung im Weiler Combe du droit.[1]  Elias Schwarz, Auktionator mit scharfem Auge, steht auf der Bühne einer improvisierten Festwirtschaft, ein Mikrofon in der Hand, zwei Moderatorinnen an seiner Seite. Und da, in der Mitte, auf dem Opferaltar Jean Grosjean, bankrotter Bauer, der weiss, dass das der Tag seines Todes ist und dass er sich sehr genau wird daran erinnern müssen.

«Bald zehn, ein zwölfter April beginnt in den Wolken und hellt sich plötzlich auf. Das Licht fällt auf einen wie ein Frühling in vollem Gang, es gäbe so viel zu tun, aber ich bin fix und fertig.» Die Gabel, die Dornenschere, die grün-gelbe Ballenpresse, der Massey-Ferguson, die Kühe Charmantine, Mignonne, Myrtille, Leïla, und – natürlich, als letzter Posten, Petite Brume: Die Güter und die Tiere ziehen an Grosjean vorbei, jedes mit seiner Ladung an Erinnerung und Auflehnung. Die LeserInnen werden machtlose Zeugen der Zerstörung eines Bauernbetriebes, eines Lebens, dessen Parzellen der Erinnerung man Stück für Stück durchpflügt. Man klammert sich an das Bild von Frida, der Ex-Frau, die vor drei Jahren gegangen ist, an die schöne Irina – Komplizin des Verkaufs, aber auch Retterin der geschwächten Bauern -, an den alten optimistischen Pfarrer, der in dem Moment, als man ihn am meisten braucht, nicht da ist, an Vivienne, «die Kriegsmaschine», die selbst einige Posten zu ergattern versucht. Hinter jeder dieser Allianzen verbirgt sich eine unterschwellige Gewalt, die nur darauf wartet, loszubrechen und den Bauern, der bereits am Abgrund steht, zugrunde zu richten: als ob der Tag zwingend damit enden müsste, einem Opfer, das sich bereits am Boden befindet, den Gnadenstoss zu geben. Eine grosse Tragödie, gebannt in ein Buch, das kaum grösser ist als eine Hand; eine Erzählung mit kurzen und dichten Kapiteln, die dem Bauern eine Stimme geben; ein Bewusstsein, das zwischen Leben und Tod taumelt und auf dessen Grund sich immer wieder Momente des Zweifels und der Verletzlichkeit auskristallisieren.

«An jenem Tag ist die Sonne eine grün-weisse Liebkosung, eine blonde Haarpracht, das mag ich am Leben; könnte ich auf meine morbide, unoriginelle Entscheidung, zu der jeder Schwerdepressive im Stande wäre, zurückkommen? Der Tod am Werk, der Tod ist nicht weiter tragisch, er hat seine Argumente, er ist trotz allem eine Rache, ein Anflug von Schuldgefühlen bei denjenigen, die einen zu Boden gebracht haben, eine kleine Wolke, die schnell wieder verpufft.»

Jean-Pierre Rochat schreibt so, dass das Erhabene dieser aus dem Leben gegriffenen poetischen Augenblicke und das Triviale der Existenz eines bankrotten Bauern ineinander übergehen. Er bringt dies so perfekt mit der Erzählung jenes Tages in Übereinstimmung, dass man die Elemente unmöglich wieder voneinander trennen kann. Zurück bleibt ein Leben, das man an der Sonne trocknen lassen möchte, um nur die idyllischen Bilder und die zarten Worte aufbewahren zu können, die sich zwischen Jean und die vor ihm liegende schreckliche Entscheidung schieben. Zugleich aber liest sich Petite Brume auch als Revolte eines Mannes, als Hilferuf der Bauern, die man «mit Bürokratie und Informatik, mit Reglementen, Kontrollen, Kontrolleuren und Inspektoren erstickt». Der Tod droht, allabwesend, zwischen den Seiten. (Zur autobiographischen Komponente, vulgo: der hinter diesem Text sich verbergenden Suizidalerfahrung hat sich Rochat bereits öffentlich geäussert.) Hinter der Härte und den unverblümten Worten steckt jedoch in jeder Erinnerung, in jedem Gegenstand, in jedem Tier Zärtlichkeit, die einer schon versiegenden Stimme neues Leben einhaucht.

Zum Autor

Jean-Pierre Rochat, 1953 in Basel geboren, hat sich 1974 mit seiner Familie als Bergbauer und Pferdezüchter in Vauffelin im Berner Jura niedergelassen. 1984 wurde er für die Erzählung «Berger sans étoile» («Hirt ohne Sterne», Zytglogge Verlag) vom Kanton Bern mit einem Förderpreis ausgezeichnet. Für den Erzählband «Hécatombe» (1999) erhielt er einen Literaturpreis des Kantons Bern, für den 2012 erschienenen Roman «L’écrivain suisse allemand» erhielt Rochat den Westschweizer Prix Michel Dentan.
Foto: © Jean-Pierre Rochat

«Wie die Ziege des Herrn Seguin, die es die ganze Nacht ausgehalten hat, werde ich es den ganzen Tag aushalten. Ich werde mein Hab und Gut mit Würde weggehen lassen und erst in der Dämmerung werde ich das Land meiner Vorfahren verlassen, um mit ihnen im Himmel wiedervereint zu sein, Ade»: Hundert Seiten lang behält einen dieser Roman in seiner Gewalt und lässt uns erst bei Einbruch der Nacht wieder frei. Und so verletztlich die Sprache auch sein mag, in der Petite Brume geschrieben ist, so konkret und politisch ist der Text gleichwohl, wendet er sich doch explizit an eine Gesellschaft, die «ihre Bauern vernachlässigt und sie durch die Agrar- und Ernährungsindustrie ersetzt, die nicht einmal mehr an die frische Luft gehen, sondern hinter den Bildschirmen ihrer Maschinen hocken». Jean-Pierre Rochat hat eine zeitgenössische Tragödie geschrieben, an deren Ende man einen Mann um alles gebracht haben wird. Aus der Katastrophe aber richtet sich der Blick, wie immer, auf die Moralität des Geschehens – und folglich auf die Frage, welchen Platz wir bereit sind, einem Bauernstand am Rande des Ruins zu geben.

[1] Auf Deutsch: «Tal der Gerechtigkeit».
[2] Da noch keine deutsche Übersetzung des Romans vorliegt, handelt es sich bei den Zitaten um Übersetzungen des Originaltexts.

Diese Rezension wurde für unsere französischsprachige Partnerseite L’Année du livre verfasst und für uns von Catherine Jost ins Deutsche übertragen. 

Jean-Pierre Rochat: Petite Brume. Genève: Éditions d’Autre Part 2017, 109 S., 23 CHF. Eine deutsche Übersetzung ist derzeit noch nicht verfügbar.

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