KW28

Schwarzmalerei in violettem Einband

Ihr Romandebüt «Die Hochhausspringerin» katapultierte Julia von Lucadou 2018 auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises und brachte ihr 2019 den Schweizer Literaturpreis ein. In ihrem zweiten Roman «Tick Tack» brillieren das ominöse Internet und die böse, unkontrollierbare Jugend in ihren Hauptrollen.

Von Zoé Richardet
11. Juli 2022

Almette, benannt nach einem deutschen Streichkäse, ist fünfzehn, lebt in einem privilegierten Haushalt und bringt schulische Spitzenleistungen. Bis sie sich aufgrund einer Freundschaftskrise auf die U-Bahngeleise legt und am Beispiel dieses misslungenen Selbstmordversuchs merkt, wie viele Follower sie mit ihrer pessimistischen Weltanschauung erreicht. Auch Jo, der ältere Bruder einer Mitschülerin, sieht Potenzial in ihr: Was man erst für eine Verbrüderung und den Verbreitungsversuch ihrer beiden Denkweisen hält, entpuppt sich gegen Ende als Taktik, Almette aus reinem Frauenhass in den wirklichen Selbstmord zu treiben.

Zur Autorin

Julia von Lucadou, geboren 1982 in Heidelberg, lebt in Lausanne, New York und Köln. Sie ist promovierte Filwissenschafterin, war als Regieassistentin und Fernsehredakteurin tätig und studierte am Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman «Die Hochhausspringerin» wurde sie 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert und 2019 mit dem Schweizer Literaturpreis honoriert. «Tick Tack» ist von Lucadous zweiter Roman.
Foto: © by Werner Christian

Die rund 250 Seiten des Romans bewegen sich durch eine Welt der Oberflächlichkeit. Grundiert wird diese Oberflächlichkeit anhand der Erzählperspektive. Jo und Almette sind die Erzählenden der Geschichte und äussern sich ausschliesslich in Beiträgen auf Social Media. Dass die Vermittlung des Inhalts auf die Beiträge beschränkt ist, wirft unweigerlich die Frage auf, wie ehrlich, flächendeckend und tiefgründig die Ausführungen sind. Schliesslich macht die Realität Online-Plattformen als Orte der Selbstinszenierung und Unterhaltung erfahrbar, wo gekürzt, verfälscht und verschwiegen wird. Diese medienkritische Haltung wird dadurch gestärkt, dass die anfängliche Unterschlagung nahezu aller Gefühlsregungen in einem starken Kontrast zu herkömmlicheren Ich-Erzählungen steht. Den Platz der Gefühle füllt mokierende Gleichgültigkeit aus, die sich zusammensetzt aus pejorativen Wortschöpfungen zur Bezeichnung von Mitmenschen, zitierten Memes und Internet-Insidern. Lesende, die mehr mit Stereotypen als mit den Nuancen der Realität vertraut sind, erkennen darin das aggressive Kauderwelsch der zeitgenössischen Jugend wieder. Indessen motiviert die Abwesenheit ernsthafter Emotionen dazu, in freudscher Manier Gedanken zum nie genannten – aber womöglich angedeuteten – Darunterliegenden anzustellen.

Eine weitere Schicht Oberflächlichkeit trägt Julia von Lucadou mithilfe ihrer Figuren auf. Der Roman scheint Vorurteile und Stereotypen bewusst zu pflegen. Die übergewichtige, brillentragende Almette, Jungfrau und schulisches Genie, kämpft mit ihrem Aussehen und sehnt sich nach Anerkennung und Verständnis. Der schlaksige Jo verbringt seine Zeit mit Gaming und Hacking statt mit Aufräumen und Körperpflege und trägt trotz der 26 Jahre nur einen Flaum über der Oberlippe. Er ist der überdurchschnittlich intelligente Evil Overlord mit Kindheitstraumata und einem sehr breiten digitalen Wissen als Waffe. Die gesamte Erzählwelt ist bevölkert von derartigen realen und popkulturellen Stereotypen, die flach wirken, ganz wie zweidimensionale Hologramme, die über einen Handy- oder Computerbildschirm flimmern.

Unsere Gesellschaft wird mit dem omnipräsenten Internet zunehmend zu einer oberflächlichen Gesellschaft der Selbstinszenierung. Um das zu vermitteln, greift Julia von Lucadou auf Performance statt Argumentation zurück. Wenn mit «Show, don’t tell» allerdings die Beschränkung aufs Oberflächliche in der digitalen Lebenswelt dargestellt werden soll, bedeutet das häufig eine Schmälerung des Lektüregenusses. Der Spannungsaufbau wird erschwert und oft verärgert das Plakative.

Noch unglücklicher ist die Wahl des Inszenierens statt Erzählens, wenn gezeigt werden soll, dass lange schlummernde Missstände zu plötzlichen Ausbrüchen gelangen können. Erst nach langen und scheinbar belanglosen Schilderungen einer abgefuckten Jugend erfährt man, dass Almette und Jo inzwischen an der Spitze einer militanten Bewegung gegen Covidmassnahmen stehen. Auf einen Schlag wird vermeintlich Harmloses zu einer Bedrohung, die einen engen Bezug zur Gegenwart aufweist, womit der lange herbeigesehnte Spannungsanstieg endlich erfolgt.

Die konsequente Performance in Tick Tack trägt aber durchaus auch einige Früchte. Mit berauschender Unmittelbarkeit überträgt Julia von Lucadou den Eindruck von einer oberflächlichen Gesellschaft auf die Lesenden. Somit regt der Roman zu vielen Gedanken betreffs zeitgenössischer Phänomene an und lässt ihre Leser*innenschaft mit einer deftigen Portion Weltschmerz zurück.

Julia von Lucadou: Tick Tack. 256 Seiten. Berlin: Hanser Verlag 2022, ca. 34 Franken.

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