KW27

Ein virtueller Tsunami

Sibylle Berg, die Königin der Reizüberflutung, hat einen VR-Kurzfilm zu ihrem neusten Roman «RCE. #RemoteCodeExecution» produziert. Dabei rausgekommen ist ein 360°-Spektakel, das Wellen ungeheurlicher Ereignisse auftürmt, die in Hochfrequenz über Individuen zusammenbrechen und sie in die Tiefe ziehen.

Von Zoé Richardet
4. Juli 2022

Man kann Berg mit vielen Titeln adeln, und «Visionärin» müsste mit Sicherheit ins Arsenal dieser Titel aufgenommen werden. Nicht nur, weil ihre Romane eine in düster umwölkter Kristallkugel hervortretende Zukunft zeigen. Sondern auch, weil sie nach GRM nun auch RCE multimedial inszeniert und damit zeigt, wie vielseitig die Möglichkeiten der Literatur sind, über ihre eigenen Textgrenzen hinaus wirksam und produktiv zu werden.

Statt sich nur innerhalb der beiden Buchdeckel zu entfalten, schwappt der Stoff von RCE über in einen 360°-Film, zu dem man über eine zugesandte VR-Brille aus bedrucktem Karton Zugang erhält. Der Druck auf dem Guckkasten zeigt die obere Gesichtshälfte Sibylle Bergs, ihre Augen ersetzt ein Paar durchsichtiger Linsen. Man muss also durch Bergs Augen blicken, um in die virtuelle Realität und damit mitten in den Roman einzutauchen.

 

Es sind dunkle Hacker-Bunker und heruntergekommene Fabrikgebäude, clean-kühle Büroräume, Lifte und Krankenhauszimmer, in die der Film seine Zuschauer*innen führt. Sie sind derart dicht bevölkert mit Menschen, Objekten und Geschehnissen, dass sie unmöglich alle ins Blickfeld passen. Ständig dreht man sich, die VR-Brille im Gesicht, um die eigene Achse und glaubt doch, etwas zu verpassen.

Zur Autorin

Sibylle Berg, geboren 1968 in Weimar (DDR), lebt heute in Zürich und Tel Aviv. Nach ihrer Ausbildung zur Puppenspielerin flüchtete sie in die BRD und studierte in Hamburg Ozeanographie und Politikwissenschaften. Zeitgleich begann Berg zu schreiben und hat inzwischen eine Vielzahl von Kolumnen, Reportagen, Romanen, Dramen und Hörspielen verfasst. Mit «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» veröffentlichte sie 1997 ihren Debütroman und wurde in Folge für ihr reges literarisches Schaffen mit namhaften Preisen ausgezeichnet (u.a. Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis, Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor). Für «GRM Brainfuck» erhielt Berg 2019 den Schweizer Buchpreis. Mit «RCE» sie ihr fünfzehntes Prosastück vor.
Foto: © Joseph Strauch

Durch die Räume trägt einen Sibylle Bergs Stimme, die passend zu den sich entfaltenden Szenerien Passagen aus RCE vorliest. Die Stimme erklärt die dystopische Welt, in deren Mitte man sich als Zuschauer*in befindet. Sie spricht vom grossen Ausgeliefertsein und vom Würgegriff des Kapitalismus, mit dem stete Beschleunigung und ein Werteverlust des menschlichen Lebens einhergehen. Zudem führt die Stimme Figuren und «Kreise» ein, beispielsweise «die Freunde», paradiesvogelartige Aussenseiter*innen, die mit ihren Hacking-Künsten die Welt aus der Krise führen wollen. Und Freia, eine Vorzeige-Kapitalistin mit viel Macht und genauso vielen Mankos.

Die Filmmusik entfaltet dabei eine zusätzliche Sogwirkung. Beschwingte Liftmusik begleitet die Szenen mit zerstörerischen Superreichen, episch-elektronische Klänge die Taten von Systemkämpfer*innen. Dadurch werden tiefe Gräben zwischen den beiden Fronten ausgehoben. Zudem wirkt die Musik als Stimmungskatalysator von Sibylle Bergs chronisch zynischen Tonfall, wenn sie fröhlich den Niedergang kommentiert.

Beim Ausziehen der VR-Brille dann bleiben eine leichte Benommenheit und die Frage, wie virtuell die Realität denn nun sei, die der Kurzfilm bebildert. Für kurze Zeit verflossen die Grenzen zwischen Lebenswelt und erzählter Welt, denn das hypnotische Spektakel überfordert seine Zuschauer*innen programmatisch mit einer Flut von Eindrücken im Zeitraffer, nimmt ihnen die Orientierung und verschafft ihnen dadurch eine lebensechte Kostprobe dystopischer Wirklichkeit.

Der 360°-Film ist also keineswegs nur wegen seines fortschrittlichen Charakters das passende Medium für den Erzählinhalt. Durch das Seherlebnis wird man zu einem Teil der Lebenswelt der unterdrückten Figuren in Bergs Geschichte: Sie werden übersetzt in ein System der Pixel und des Lichts, in dem ihnen jegliche menschliche Bedeutung abhandenkommt. Die VR-Brille isoliert sie von ihren Mitmenschen, während sie wehr- und orientierungslos über sich ergehen lassen müssen, dass sie der Film positioniert, wie es ihm beliebt. Wo auch immer man als Zuschauer*in strandet, nirgends bietet sich die Möglichkeit, das Geschehen zu beeinflussen. Dadurch verkommt man zur passiven Gafferin mit fremdgesteuertem Blick, noch viel mehr als im Buch.

Für einen Stoff, der sich der Technokratie und dem repressiven Kapitalismus so konsequent annimmt, wie RCE es tut, eignet sich der 360°-Film ausserordentlich gut. Mit seinem grossen medialen Potential öffnet er der Literatur verschlossene Räume und bebildert die Ideen und Botschaften von RCE mit einer solch eindrücklichen Tiefenwirkung, dass er seiner 700-seitigen Romanvorlage ernsthafte Konkurrenz macht.

Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution. 704 Seiten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022, ca. 12 Franken.

Weitere Bücher