KW26

Sturm auf die mütterliche Bastille

In seinem Debütroman «Gegen Gewicht» erzählt Andri Bänziger mit Leichtigkeit von der Angst, sich dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen auszuliefern.

Von Jana Bersorger
27. Juni 2022

Berauscht davon, endlich dem Dorf entkommen zu sein, trifft die junge Ich-Erzählerin in einer Thuner Bar den ausgeglichenen Ricardo. Wenig später kommt sie mit ihm zusammen. Dass ihre Gefühle Ricardo gegenüber nur lau sind, ist der von Verlustangst geplagten Frau ganz willkommen. Unverhofft Schwung in ihr Leben bringt Ricardos psychotische Schwester Nathalie. Nathalie ist impulsiv, launisch und schockierend ehrlich – das pure Gegenteil zur Erzählerin, die sich nur schwer wehren kann und nichts und niemand an sich ranlässt. Die Freundschaft der beiden währt aber nicht lange. Kurz nach dem Zerwürfnis mit Nathalie wird die Erzählerin von Ricardo schwanger und bringt eine Tochter mit Trisomie 21 zur Welt: Aliena. Die Verantwortung für das fremde Leben lastet schwer auf der Mutter; darüber hinaus scheint das widerspenstige Mädchen ihren Eltern das Leben absichtlich schwer zu machen. Sie ist beleidigend, schadenfroh und schlägt auch mal zu. Als die Erzählerin begreift, dass ihr Kind alles daransetzt, ihre jahrzehntealte Schutzmauer zu durchbrechen, verändert sich ihre Beziehung zu Aliena und zum Leben selbst grundlegend.

Zum Autor

Andri Bänziger, geb. 1992 in Mötschwil (Bern), studierte Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Biel, wo er heute lebt. Mit «Gegen Gewicht» erschien 2021 sein Romandebüt.
Foto: © Thomas Gasser

Bildgewaltig ohne Ballast

Glückliche Paare mit süssen Babys, allmählich Probleme, Scheidung, Entfremdung von Eltern und Kindern – dieses Narrativ dominiert gewöhnlich. Andri Bänziger, 1992 im Emmental geboren und Absolvent des Bieler Literaturinstituts, legt mit Gegen Gewicht eine kontrastierende Geschichte vor, in der eine verkorkste Familie immer besser zusammenfindet. Dabei startet die Erzählung alles andere als dramatisch; bedrückend ist vielmehr der Wunsch der Erzählerin nach absoluter Mittelmässigkeit. «Die Vergänglichkeit ist ein Vogel, der gierig pickt», konstatiert sie und in dieser Abwehrhaltung gefangen, hält sie ihre Mitmenschen und das Leben selbst auf Distanz. Erst Aliena, «der geborene Widerwille», macht diese Lebenshaltung unmöglich und reisst die Schutzmauer ihrer Mutter gnadenlos nieder. Die Erzählerin begreift: Dadurch, dass sich das Leben im Laufe der Zeit abträgt, verliert es an belastendem Gewicht und gewinnt an Freiheit.

Die Leichtigkeit, welche die Erzählerin wiederfindet, ist dabei auch prägendes Stilprinzip des Romans: Die langen Sätze lesen sich fliessend und passen zu den schweifenden Gedankengängen. Der Wortschatz ist unprätentiös, manchmal dialektal gefärbt. Mit bescheidenen Mitteln, aber grossem sprachlichem Gespür schafft Bänziger so treffende und aussergewöhnliche Bilder. An den Stellen, wo die Bildhaftigkeit kitschig zu werden droht, fängt die Erzählerin ihre eigene Verklärung reflektiert auf.

Schonungsloses Gefühlskarussell

Die Erinnerungen der Ich-Erzählerin folgen zwar einem losen Faden, sind aber doch assoziativ und anekdotisch. Manchmal fragt man sich, ob man die eine oder andere Story vermisst hätte, wenn sie nicht zum Besten gegeben würde, aber auch durch die Längen kommt man dank der organischen Sprache und dem sorgfältig dosierten Humor gut. Die Unnahbarkeit ihrer jungen Jahre hat die Erzählerin abgelegt und in ihrer Offenheit liegt die Stärke dieses Debüts: Als Leser*in schluckt man leer, wenn man plötzlich unbändige Wut gegenüber einem beeinträchtigten Mädchen verspürt, das manchmal gar verschlagen und boshaft wirkt. Die Abgründe der Erzählerin werden zu den eigenen – Schamgefühle und Ratlosigkeit inklusive. Und trotzdem versteht und verzeiht man Aliena wieder und schliesst sie gegen Ende, wiederum gemeinsam mit der Erzählerin, ins Herz.

Neben der schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung bringt Bänziger auch das Thema psychischer Erkrankungen aufs Tapet. Die depressiven Phasen in der Jugend der Erzählerin, die psychotischen Schübe ihrer Schwägerin Nathalie – beides ist nicht leicht, beides fördert Unschönes zu Tage, gehört aber zum Leben. Erst wenn man das Schwere zulässt, kann man sich wirklich leicht fühlen; das wäre wohl die Weisheit, die man aus Gegen Gewicht destillieren könnte. Dieses simple Destillat wird dem Roman aber nicht gerecht; für eine flache Selbstfindungsgeschichte schreibt Bänziger zu subtil. Statt einer gewollt tiefschürfenden Pointe bleibt nach der Lektüre vielmehr eine Vielzahl von Eindrücken und Zwischentönen, die einen nachdenklich zurücklässt.

Andri Bänziger: Gegen Gewicht. 176 Seiten. Biel: verlag die brotsuppe 2021, ca. 27 Franken.

Weitere Bücher