KW38

Puritanischer Rausch

Die dritte Ausgabe des Literaturtalks «Wortfetzen» war ein Abend gestaltet ganz im Sinne der rauschhaften Literatur mit seinen vielen Facetten: der subversiven Kraft, dem Privileg des Eskapismus und der Reproduktion patriarchaler Strukturen.

Von Silvan Preisig
21. September 2022

Anfang September fand im Fabriktheater die dritte Ausgabe des Literatur-Podiums «Wortfetzten» statt, organisiert vom Online Magazin Das Lamm. Unter dem Titel Abfuck und Ekstase wurde über Rausch und Literatur im Spannungsfeld von hedonistischem Eskapismus und rebellischer Sozialkritik diskutiert. Zu Gast waren Julia von Lucadou, die in ihrem aktuellen Roman Tick Tack den abgründigen Möglichkeiten des Rauschs auf Social-Media-Plattformen nachspürt. Pöbel MC ist Rapper und verbindet in seiner Musik Saufeskapaden mit klaren politischen Statements. Anwesend war ausserdem Jessica Jurassica, die in ihrem Roman Das Ideal des Kaputten den Drogenkonsum als Spiegel patriarchaler Strukturen thematisiert. Moderiert wurde der Abend von Meral Ziegler.

Zwischen Topf-Palmen, Kunstrasen und Graffitis begann der Platz vor dem Fabriktheater sich mit Menschen zu füllen. Outlinetattoos, vokuhilaeske Frisuren und Adidasstreifen dominierten beim jungen Publikum, irgendwo zwischen Millennials und Gen Z. Alles sehr cool jedenfalls. Eine Mitarbeiterin verkündete dann unvermittelt, dass der Strom im Gebäude ausgestiegen sei. Kurzerhand wurden also alle Stühle, inklusive Sofas nach draussen getragen, um unter grauen Wolken über Rausch und Schreiben zu sprechen.

Parental Advisory

Von Beginn an wirkten die drei Gäste dem möglichen Vorbehalt, den Drogenkonsum durch ihre Kunst zu verherrlichen, vorbeugend entgegen. Pöbel MC etwa spielte die hedonistische Komponente des Rausches im Zusammenhang mit der Produktion von Texten herunter. So könne ein rauschhaftes Erlebnis durchaus Stoff für einen Song hergeben, doch die reine Zelebrierung stehe der guten Kunst, also einem emotionalen und innovativen Raptext, entgegen. Der Akt des Schreibens gelinge ihm im nüchternen Modus am besten. Ähnlich bei Jessica Jurassica: Sie schreibe nur in nüchternem Zustand, trinke keinen Alkohol und nehme keine Drogen mehr. Dennoch sagte sie, ein Ayahuascatrip in Südamerika habe ihr geholfen, eine Schreibblockade zu lösen. Diese Drogenerfahrungen hat sie in ihrem Roman Das Ideal des Kaputten verarbeitet. Für ihr kreatives Schaffen sei der Rausch aber abgesehen davon nicht sehr relevant.

Dazwischen begann es zu regnen und der Wind wurde immer stärker, sodass die drei Gäst*innen in ein Megafon sprechen mussten, damit wir sie verstehen konnten. Das gab der Veranstaltung einen Anflug von Dringlichkeit, war aber auch ungemütlich. Gut, sprang der Strom dann doch noch an. Nach rund 30 Minuten wechselten wir also nach drinnen.

Rausch vs. Rebellion

Immer wieder kreiste die Diskussion um das Verhältnis von Rausch und Gesellschaft. Julia von Lucadou sagt, sie habe sich bewusst für den Beruf der Schriftstellerin entschieden, um ein Stück weit der Produktionssucht der Leistungsgesellschaft zu entgehen und sich dem Genuss und Rausch hingeben zu können. Der Rausch sei aber meist nur scheinbar subversiv und vielmehr eine Inszenierung von Rebellion, die eigentlich nur die individuelle Konsumpflicht erfülle. «Ist es in einer Zeit der Krisen moralisch legitim, sich zu berauschen, statt sich aktivistisch zu engagieren?», hakt die Moderatorin nach. Julia von Lucadou und Pöbel MC waren sich einig, dass Rausch ein (privilegiertes) Ventil sein könne, um die Probleme der Welt stumm zu schalten und dass rauschhafte Kunst ein politisches Potential in sich trage. Wie genau äussert sich dieses Potential? Man wünscht sich, dass Meral Ziegler an dieser Stelle nachgehakt hätte.

Etwas konkreter wurde die Diskussion in puncto patriarchale Strukturen. Rausch fände häufig in Räumen statt, in denen diese Strukturen sehr präsent seien, weil es eben nicht regulierte und zum Teil illegale Millieus seien. Jessica Jurassica eröffnet mit ihrem Roman eine andere Perspektive und bricht damit mit dem Stereotyp des männlichen versifften Pop-Autors, nur um in einer der ersten grösseren Rezension als «weibliche Kracht» bezeichnet zu werden. Dabei gäbe es genügend weibliche Stimmen in der Literatur, auf die man sich beziehen könne, wenn man sich für den Rausch interessiere. So zum Beispiel Verena Stefans Text Häutungen. Leider blieb es bei der Affirmation eines ambivalenten Verhältnisses von Rausch und Gesellschaft. Passend dazu stimmte Jessica Jurassica einer Aussage aus dem Publikum zu, dass ein nachhaltiger Lebensstil nicht mit einem regelmässigen Drogenkonsum zu vereinen sei. Kurz zuvor hatte sie aber noch zu einem erhöhten Kokainkonsum bei Frauen aufgerufen («Männer sollten etwas weniger konsumieren, Frauen etwas mehr»).

Viel Rausch, wenig Schreiben

Was bei der Gesprächsrunde zu kurz kam, war die Auseinandersetzung mit der Funktion des Schreibens für den Rausch. Inwiefern das nach wie vor tabubehaftete Thema Drogen im Literaturbetrieb eine Randposition einnimmt, dabei aber dennoch auf eine grosse Resonanz trifft (es sind rund 100 Besucher*innen gekommen), hätte ruhig mehr Platz einnehmen dürfen. Immerhin deuten Labels wie «weibliche Kracht» oder «intellektueller Battlerapper» ja auf die immer noch geltende Distinktion von rauschhafter und «hoher» Literatur seitens der Berichterstattung aus dem Literaturbetrieb hin. Die Aussage von Julia von Lucadou, dass sie das Schreiben in einen Rauschzustand versetzen könne, einen intuitiven Flow, der sich ausserhalb vom Verstand abspiele, hätte man aufgreifen und weiterführen dürfen. Online heisst es, der Literaturtalk Wortfetzten sei ein Format, bei dem über «Literatur diskutiert, gestritten und gefetzt» wird. Kontroverse Wortwechsel liessen die anwesenden Gäst*innen leider weitestgehend vermissen. Trotz interessanten Ansätzen blieb das Gefühl zurück, dass mehr drin gelegen wäre. Nach einem fast 120-minütigem Talk wurde die Runde mit der Frage geschlossen, was die jeweilige Lieblings-Rauscherfahrung sei. Pöbel MC: Sport; Julia von Lucadou: Schreiben; Jessica Jurassica: Arbeit (an der Bar). Das klingt dann aber doch sehr leistungsorientiert.

Wortfetzen ist der Literaturtalk des Online Magazins das Lamm. Unter der Moderation von Meral Ziegler wird über Literatur diskutiert, gestritten und gefetzt. Das Motto ist feministisch, die Themen sind so vielfältig wie das Publikum.

In Volume 1 wurde die Frage nach Identität in der Literatur gestellt – und sicher nicht beantwortet. Volume 2 widmete sich dem Nature Writing. In Volume 3 wurde unter dem Motto Literatur und Rausch an den entstandenen Verunsicherungen weitergearbeitet, um unser althergebrachtes und immer noch patriarchal geprägtes Verständnis von Literatur vielleicht ein bisschen ins Wanken zu bringen.

Garantiert mit streitlustigem Publikum und Literatur von Instapost bis epischem Roman. In solidarischer Kooperation mit der feministischen Buchhandlung Paranoia City.

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