KW31

Auf Thoreaus Spuren

Charles Lewinsky

Hansjörg Schertenleibs neue Erzählung «Palast der Stille» zelebriert die Abkehr von der Welt, um schreibend zu ihr zurückzukehren.

Von Lorenz Ruesch
27. Juli 2020

Er sitzt auf einer Kiefer und beobachtet die Vögel, das Meer. Später wird er durch den Schnee zu dem Cottage zurückstapfen, seinem Refugium an der kalten Küste Neuenglands. Das Brennholz zum Heizen hat er am Morgen eigenhändig gespalten, die zugeschneiten Wege zwischen Wohnhaus und Garage mühevoll freigeschaufelt.

Hansjörg Schertenleibs neueste Erzählung handelt von einem Rückzug. Der weitgereiste Schweizer Schriftsteller, zuletzt über zwanzig Jahre im irischen Donegal wohnhaft, hat sich vor einigen Jahren entschieden, eine kleine Hütte auf einer Insel im US-Bundesstaat Maine zu kaufen. Wie Henry David Thoreau, dem Musterbild des literarischen Aussteigers, wollte sich auch Schertenleib dem Schreiben widmen, auf sich selbst zurückgeworfen, ohne weltliche Ablenkung und Einmischung. Palast der Stille ist das Ergebnis dieses Versuchs: ein Blick zurück auf die Lebensgeschichte des Autors wie auch die Aufzeichnung seiner momentanen Tagesroutine im eingeschneiten Küsten-Cottage.

Das lässt die Nabelschau eines weltmüden Emeriten befürchten. Ein Verdacht, der sich durch die ausführlichen Naturbeobachtungen Handkescher Prägung stellenweise zu bewahrheiten droht. Doch gibt es eben auch zahlreiche Irritationseffekte, die diesen Eindruck unterlaufen. Wie der hintersinnige Ton, in dem Schertenleib schildert, wie er bedeutungsschwanger über die Reifenspuren vor seiner Hütte sinniert, nur um dann sofort auf der rutschigen Strasse «hinzuknallen». Oder seine Verteidigung des abgekapselten, ereignislosen Lebens – Langeweile empfinde schliesslich nur, wer langweilig ist –, die von seinen Freunden als Plattitüde bezeichnet wird: «völlig zu Recht», wie auch er selbst lakonisch feststellt.

Zum Autor

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, lebt in Suhr (AG) und Spruce Head Island (Maine, USA). Ausbildung zum Schriftsetzter und Typographen, anschliessend Besuch der Kunstgewerbschule (ZH). Seit 1981 ist Schertenleib als freier Schriftsteller tätig und veröffentlicht Prosa, Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke. Als Journalist schrieb er für renommierte Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit, Stern, NZZ. Ausserdem war Schertenleib Gastprofessor in Boston und Oxford und Dozent am Literaturinstitut in Biel. Sein literarisches Schaffen wurde mehrfach prämiert, u.a. mit dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem ndl-Literaturpreis.
Foto: © Milena Schlösser

Eine nüchterne Distanzierung zum Erzählten bestimmt das Buch, stilistisch nicht ungewöhnlich für Schertenleib, wäre das Erzählte nicht so persönlich. Denn die Tage des Nichtstuns in Maine wecken Erinnerungen an den Müssiggang seiner Kinder- und Jugendtage. In kurzen Szenen erfahren die Lesenden von seinem Heranwachsen in Zürichs Industriequartieren, von prägenden Momenten in der Werkstatt seines Onkels Leopold bis zur Flucht aus der Heimatstadt, zuerst in den Aargau, dann in die weitere Welt.

Diese Reminiszenzen des Ich-Erzählers werden ergänzt durch Passagen in der dritten Person, die Schertenleibs eigenen Schreibprozess und seine literarische Laufbahn thematisieren. Dies verschafft ihm genügend Abstand, um auch bei gelegentlichen Seitenhieben gegen den Schweizer Literaturbetrieb und das Literaturinstitut Biel nie überheblich oder selbstgerecht zu wirken. Zumal er sich ohnehin bewusst ist, dass er sich am Schreibtisch «die Welt zurechtbiegt, wie es ihm in den Kram passt, auch in dieser Hinsicht macht er sich nichts mehr vor».

Palast der Stille erzählt von jemandem, der sich mit der Welt abgefunden hat, sich keine idealisierende Illusionen übers Schreiben mehr macht und trotzdem nicht die Finger davon lassen kann. Schertenleib jagt Geschichten nach, wo immer er sie findet, erforscht beispielsweise die Herkunft seiner gebraucht gekauften Möbel und stösst so auf ein von Opioid-Krise und Nahost-Kriegen gebeuteltes Amerika.

Ein erstaunlich ausgeprägter Weltbezug also, für ein Buch eines vermeintlichen Aussteigers. Die Flucht vor der Gesellschaft entpuppt sich dergestalt als falsche Fährte. Man hätte es wissen müssen. Schon der berühmte Eremit Thoreau, weiss Schertenleibs Frau, liess sich während seiner Zeit im Wald manchmal noch gerne zu Hause von seiner Mutter verpflegen.

Hansjörg Schertenleib: Palast der Stille. 171 Seiten. Zürich: Kampa Verlag 2020, ca. 24 Franken.

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