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«Es ist nicht die Aufgabe der Literatur, es allen recht zu machen.»

Wir haben Hansjörg Schertenleib am Apparat. Ausführlich berichtet der heute im Burgund lebende Autor über sein neues Buch «Die grüne Fee». Geschrieben hat er die Gespenstergeschichte grösstenteils in Irland, wo sie auch spielt. Auf 128 Seiten breitet Schertenleib auf, was dem alternden Einzelgänger Arthur Dold widerfährt, als er seinen besten Freund Christian Aplanalp auf dessen Landsitz besucht. Im Gespräch reflektiert er die Erzählperspektive, die Rolle der Frauen in dieser Geschichte und das Veränderungspotential von Literatur.

Von Jacqueline Kalberer
15. August 2022

Arthur Dold ist der Erzähler in Die grüne Fee. Entsprechend nimmt man Christian Aplanalp und die Beziehung der beiden Männer als Leser:in ausschliesslich aus Arthurs Perspektive wahr. Wie würden Sie diese Beziehung aus Christians Perspektive beschreiben? 

Da ich mich entschlossen habe, die Geschichte aus der Perspektive der anderen Hauptfigur Arthur Dold zu erzählen, kann ich diese Frage nicht beantworten. Der Autor weiss bei der Wahl dieser Erzählinstanz nicht mehr als die Leserin und der Leser. Zudem war für mich klar, auch aufgrund des gewählten Genres, dass es kein multiperspektivisches Erzählen sein kann. Und für mich lag auch auf der Hand, dass ich, der ich jetzt seit 40 Jahren freier Schriftsteller bin, also das Leben eines Kultur- oder Kunstschaffenden führe, nicht aus der Sicht von Christian erzähle, also des Künstlers, sondern eben aus derjenigen von Arthur Dold, der mir einerseits nahesteht, andererseits vom Beruf her aber weiter weg als Christian. Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, hat sich die Geschichte diesem Blickwinkel untergeordnet. Darum könnte ich diese Frage nur beantworten, wenn ich die Geschichte aus Christians Perspektive erzählen würde – was ein neues, ein anderes Buch ergäbe. 

Haben Sie die Entscheidung für Arthurs Erzählperspektive je bereut? 

Nein, das habe ich nicht. Für mich selbst ist es entscheidend, dass mir der Schreibprozess Spass macht und er eine Herausforderung darstellt. Beides ist erfüllt. Und darum weiss ich, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. 

Haben Sie sich trotzdem während des Schreibens Gedanken dazu gemacht, wie Christians Innenleben aussieht, oder blieb das für Sie eine leere Fläche? 

Nein, eine leere Fläche blieb es nicht. Aber ich nehme die Erzählperspektive ernst, weshalb ich über Christian Aplanalp nur wissen kann, was Arthur Dold sieht, weiss, erinnert. Diese Erzählinstanz ist für viele Dinge – das klingt negativer als ich es meine – blind. Das Erzählen hat mit der gewählten Perspektive eine eingeschränkte Bandbreite. Es kann nicht darum gehen, was ich als Hansjörg Schertenleib über Christian Aplanalp weiss. Denn dann hätte ich eine auktoriale Erzählinstanz installieren müssen, was selbstredend ebenfalls möglich gewesen wäre: der gottgleiche Erzähler, der über allem schwebt. Aber meine Kommentare haben in diesem Buch nichts verloren. Der Erzähler ist Arthur Dold. 

Zum Autor

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, lebt in Suhr (AG) und Spruce Head Island (Maine, USA). Ausbildung zum Schriftsetzter und Typographen, anschliessend Besuch der Kunstgewerbschule (ZH). Seit 1981 ist Schertenleib als freier Schriftsteller tätig und veröffentlicht Prosa, Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke. Als Journalist schrieb er für renommierte Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit, Stern, NZZ. Ausserdem war Schertenleib Gastprofessor in Boston und Oxford und Dozent am Literaturinstitut in Biel. Sein literarisches Schaffen wurde mehrfach prämiert, u.a. mit dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem ndl-Literaturpreis.
Foto: © Milena Schlösser

Diese Erzählperspektive scheint Ihnen sehr wichtig. 

Das ist sie. Das ist übrigens etwas, was mich bei vielen Gegenwartsbüchern ärgert. Es werden unglaublich oft Fehler gemacht in der Erzählperspektive. 

Die eingeschränkte Erzählperspektive hindert Sie aber nicht daran, Arthurs Blick gezielt zu steuern und ihn Hinweise wahrnehmen zu lassen, die auch eine andere Interpretation des Endes erlauben als die, die Arthur selbst vornimmt, insbesondere bezogen auf den Ursprung des Feuers. Steckt möglicherweise ein Kriminalroman in dieser Gespenstergeschichte? 

Einen Kriminalroman würde ich Die grüne Fee nicht nennen. Verwenden wir doch den Begriff der Spannung. Die ist natürlich vorhanden. Aber Motive wie das Feuer, die Handschuhe, der Schnee – der eine tragende Rolle spielt, was Dolds Wahrnehmungsfähigkeit betrifft – all diese Hinweise, welche die Geschichte auf etwas zuführen, sind natürlich dem Genre geschuldet. Ich nehme eben nicht nur die Erzählperspektive ernst, sondern auch das Genre. In diesem Fall das Genre Gespenstergeschichte. Und dieses hat Gesetzmässigkeiten, etwa dass Hinweise platziert werden, die die geneigte Leserin oder der geneigte Leser durchaus entziffern und zur Kenntnis nehmen kann. 

Dann haben Sie Bernadette nicht absichtlich als Täterin in Bezug auf das Feuer impliziert? 

Ich denke nicht, dass ich derart starke Hinweise platziert habe, dass man dies vermutet. Das war jedenfalls nicht meine Intention. Es ist eher so, dass ich die Möglichkeit andeuten wollte. Wobei ich das Unerklärliche, das in der Geschichte liegt, ebenfalls nicht erklären kann. Und auch das bedeutet, dass ich das Genre ernst nehme. Es gibt Dinge, die sich unserer Wahrnehmung entziehen. Und das betrifft auch mich als Autor und also Schöpfer dieser Geschichte. Ich habe mich selbst in einen Raum begeben, in dem Vieles unscharf und nicht zu erklären ist. Wobei sich der Begriff der Unschärfe nicht auf die Sprache bezieht. Ich mag keine unpräzise Sprache. 

Also überlassen Sie es den Lesenden, sich eine Interpretation zurechtzulegen. 

Genau. Für mich als Leser ist es uninteressant, wenn ich nach zwölf Seiten weiss, – und das betrifft beileibe nicht nur Kriminalromane – in welche Richtung der Hase läuft. Da fühle ich mich unterfordert und für dumm verkauft.  

Sie arbeiten auch sehr gezielt mit intertextuellen Bezügen, die den Lesenden viel Interpretationsspielraum lassen. Welche Rolle spielen für Sie beispielsweise Hinweise auf das Werk von HP Lovecraft in Die grüne Fee? 

Im Idealfall beginnt die Leserschaft, sich Fragen zu stellen. Und die Frage nach der Verlässlichkeit der Wahrnehmung finde ich wichtig. Gerade in der heutigen Zeit. Selbstverständlich sind diese Hinweise aber auch bewusst platziert als Verneigung vor einem Autor, der für mich extrem wichtig war. Eigentlich findet man in all meinen Büchern Verneigungen vor Autorinnen und Autoren, die mir viel bedeuten als Leser, aber eben auch als Schriftsteller. Und Lovecraft war einer von denen, die mich zum Leser gemacht haben mit siebzehn Jahren. 

Was mir ebenfalls in mehreren Ihrer Bücher aufgefallen ist, sind Figuren, die einen Rauschzustand erleben. In Die grüne Fee ist der Rausch der Hauptfiguren sogar von zentraler Bedeutung. Welchen Zweck erfüllt der Rausch in Ihren Erzählungen? 

Den Zustand der Entäusserung, des ausser-sich-Seins, des Kontrollverlusts finde ich für Figuren höchst interessant. Wenn ich eine Figur entwickle, möchte ich ihr die Möglichkeit geben, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Ich behaupte, man lernt Figuren von einer ganz anderen Seite kennen, wenn sie die Kontrolle nicht länger haben.  

Dient der Rausch also als Anstoss zu einer Veränderung? Um aus sich herauszukommen oder aus der Situation, in der eine Figur sich befindet? 

Wahrscheinlich ist das der Hintergrund, ja. Was übrigens überhaupt nicht autobiographisch hinterlegt ist. Ich mag es selber gar nicht, die Kontrolle zu verlieren durch Substanzen, die ich meinem Körper zuführe. Aber ich schätze es als Autor und als Führer der Erzählfäden, meinen Figuren zu gestatten, die Kontrolle zu verlieren. 

Dieser Kontrollverlust kann auch sehr beklemmend wirken. Gerade in Die grüne Fee finde ich diesen Effekt sehr gelungen. 

Wahrscheinlich, weil ich selbst diese Angst vor Kontrollverlust habe. Es wäre für mich vielleicht lohnender und auf jeden Fall herausfordernder gewesen, wenn ich Arthur als jemanden beschrieben hätte, der überhaupt kein Problem damit hat, die Fäden aus der Hand zu geben. Da habe ich dann doch den Weg gewählt, den ich gut kenne. Das war in diesem Fall aber auch angemessen, weil diese Episode ja tatsächlich beklemmend wirken sollte. 

Was ebenfalls beklemmend wirken kann, ist die Darstellung der Frauenfiguren. Insbesondere Bernadette, Christians Haushälterin, wird stark auf das Äusserliche reduziert. Das entspricht gar nicht Ihrem Stil, in anderen Büchern haben Sie sehr viele tiefgründige Frauenfiguren geschrieben! 

Man kann sich fragen, ob es Bernadette überhaupt gibt oder ob sie eine reine Projektion ist. Ist sie nichts als eine Männerfantasie? Arthur Dold befindet sich zudem in einem Alter, in dem man – und das darf man jetzt nicht mit dem Autor verwechseln – Frauen anders wahrnimmt, als es heute in der Literatur völlig zu Recht verlangt wird. Das ist tatsächlich der Erzählperspektive geschuldet und eben auch seinem Alter. 

Was hat Sie dazu bewogen, eine Susanne in diese Erzählung aufzunehmen? Als Christians Ex-Frau kommt sie relativ schlecht weg… 

Das war auf jeden Fall nicht intendiert. Aber Sie haben natürlich auch Recht, man könnte Susanne so darstellen. Ich kann eigentlich nur eine Antwort geben, die heute nicht mehr statthaft ist: Frauen spielen in dieser Geschichte nur eine marginale Rolle. Wäre es richtig gewesen, weil für die Geschichte lohnend, wenn beispielsweise Bernadette eine tragende Rolle gespielt hätte? Oder hätte ich ihre Figur ausführlicher und demnach also präziser ausformulieren sollen? Allerdings wäre das bei ihren kurzen Auftritten wahrscheinlich schwierig geworden. Frauen sind halt – ganz schlimm, was ich jetzt sage – für diese Geschichte nicht so wichtig wie die beiden Männer, um deren Freundschaft es eben auch geht. Aber das wird dem Buch jetzt nicht wirklich gerecht, weil es klingt, als wären die Frauen überhaupt nicht vorhanden. Und das ist nicht so. Das kam auch im Lektorat nicht zur Sprache. Die Lektorin – eine Frau – fand nicht, Bernadette sei eine blasse, eindimensionale Figur. 

Ich fordere Sie da natürlich ein wenig heraus. 

Das finde ich auch wichtig. Und Sie fordern mich auf einem Gebiet heraus, das im Moment in der Literatur eigentlich im Vordergrund steht. Das ist mir völlig bewusst. Nur, was bedeutet das jetzt für uns Autoren? Bedeutet das, dass man keine Männerfreundschaft mehr beschreiben kann, in denen Frauen marginal auftreten? 

Möglicherweise ist die Gleichbehandlung von Mann und Frau bei der Beschreibung äusserlicher Merkmale ein Ansatz. 

Wir sehen die Figuren in dieser Geschichte durch den Filter von Arthur Dolds Wahrnehmung. Und natürlich nimmt er Bernadette anders wahr als den Fahrer Seamus. Soll und darf man diese Wahrnehmung dem Autor anlasten, ihm vielleicht gar Sexismus unterschieben? Nur damit mir der Vorwurf des sexuell aufgeladenen und damit sexistischen Blicks nicht gemacht werden kann, müsste ich Seamus und alle anderen männlichen Figuren gleich beschreiben. Das ist genau das, bei dem wir uns meiner Ansicht nach viel verunmöglichen. Im Grunde genommen kann man sich dann ja nur noch im Kreis drehen, weil man es allen recht machen will, allen gefallen will. Das ist nicht Aufgabe der Literatur. Und damit wir uns richtig verstehen, das will ich wirklich festhalten: In meinen Büchern gibt es sehr viele und sehr ausführlich und detailliert ausformulierte Frauenfiguren. Es ist nicht so, dass Hansjörg Schertenleib in seinen Büchern Frauen marginal behandelt. Aber in dieser Gespenstergeschichte, die ja eigentlich eine Novelle ist, treten sie tatsächlich in den Hintergrund – und ziehen recht eigentlich, zumindest im Falle von Bernadette, die Erzählfäden. 

Die Frage nach der Darstellung von Frauenfiguren geht auch über Ihr Werk hinaus, sie betrifft die Literatur als Ganzes. 

Gerade was Genderfragen betrifft, befinden wir uns an einem Scheidepunkt. Und mir macht das auch Sorgen, wie ich zugeben will. Was bedeutet das für die Freiheit der Wahrnehmung? Arthur Dold nimmt Bernadette anders wahr als Christian oder Seamus. Ich kann nicht die gewählte Erzählperspektive verraten, nur damit ich als Autor gut dastehe und mir niemand den Vorwurf von Sexismus machen kann. Dann verrate ich die Literatur. 

Muss es denn ein Perspektivenfehler sein? Als Autor hat man doch die Möglichkeit, eine andere Wahrnehmung zu normalisieren, indem man einer Figur wie Arthur Dold eine andere Wahrnehmung zuschreibt. 

Das würde heissen, Sie machen aus Arthur Dold einen anderen Menschen. Steht Ihnen das zu, das zu verlangen? Steht das der Literaturkritik zu? Moralisch zu urteilen? Ich finde nein, das steht Ihnen nicht zu. Und ich finde das, offen gestanden, auch nicht die Aufgabe der Literaturkritik. Doch das ist exakt das, was im Moment oft passiert. Im Grunde genommen wird nur noch moralisch geurteilt, werden im schlimmsten Fall von den dargestellten Figuren immer noch – oder eher wieder – Rückschlüsse auf die Autoreninstanz gezogen. Das würde ja für viele Bücher, die wichtig sind für die Literaturgeschichte, bedeuten, dass sie wertlos, weil moralisch nicht korrekt sind. 

Man muss heutige Massstäbe ja nicht unbedingt der Vergangenheit auferlegen. Aber ist es nicht ein Anspruch der Literatur, die Gesellschaft zu verändern? 

Eigentlich glaube ich das auch immer noch. Sonst hätte ich vielleicht schon längstens aufgehört, Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen. Gleichzeitig befürchte ich, dass es nicht so ist. Und die Erfahrung von vierzig Jahren in diesem Beruf bestätigt leider diese Befürchtung. Ich würde wahrscheinlich anders reden, wenn ich meine Rolle anders verstanden hätte, eher wie Franz Hohler oder Lukas Bärfuss – der Schriftsteller als politische Instanz. Ich habe meine Rolle immer anders verstanden. Gleichwohl habe ich immer die Hoffnung gehabt – und ich habe sie immer noch – dass ich mit meinen Büchern etwas verändere. Etwas in der Leserin und im Leser. 

Das Gespräch führte Jacqueline Kalberer.

Foto: ©  Milena Schlösser

Hansjörg Schertenleib: Die grüne Fee. 128 Seiten. Zürich: Kampa Verlag 2022, ca. 22 Franken.

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