KW29

Die Banalität der Einzigartigkeit

Charles Lewinsky

Mit «Rate, wer zum Essen bleibt» hat Philipp Tingler einen pseudohumoristischen Gesellschaftsroman über die Angst vor der Mittelmässigkeit geschrieben. Mit der zynischen Vorführung seiner Figuren entlarvt der Autor dabei vor allem eins: sich selber.

Von Judith Manon Rehmann
13. Juli 2020

Franziska steht ein wichtiges Abendessen bevor. Glückt es, belohnt der geladene Dekan sie mit der neuen Stiftungsprofessur; misslingt es, bleibt sie zum ewigen Mittelmass verdammt. Dieses Katastrophenszenario rückt bedrohlich nahe, als plötzlich eine neue Figur auf den Plan tritt: Conni Gold ist nicht eingeladen, bleibt trotzdem zum Essen, und dabei denkt sie laut und trinkt viel. So viel, dass nach ihr sogar ein Cocktail benannt worden sei; «streng genommen» aber kein Cocktail, sondern «eine beliebige Flasche Wein in einem dieser riesigen Gläser». Wie dem auch sei: Conni scheint es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, alles an die Oberfläche zu sprengen, was Franziska lieber unter einer Betonschicht zementiert hätte.

In Rate, wer zum Essen bleibt, seinem sechsten Roman, bedient sich Philipp Tingler des etablierten Settings der emotional eskalierenden Gemengelage. Bereits der Titel spielt auf den Filmklassiker Rate, wer zum Essen kommt mit Katharine Hepburn von 1967 an. Im Gegensatz dazu verpasst Tingler jedoch die Chance, sein Publikum zu packen, mit seiner Erzählung zu verstricken und damit im Gedächtnis zu bleiben.

Zum Autor

Philipp Tingler, geboren 1980 in West-Berlin, lebt heute in Zürich. Studium der Ökonomie und Philosophie in St. Gallen, London und Zürich. An der Universität Zürich promovierte er zu Thomas Mann. Tingler schrieb journalistische Beiträge für Zeitungen, Radio und Fernsehen (u.a. Stern, WDR, SRF) und ist bis heute als Kolumnist beim Tages-Anzeiger tätig. Seit 2014 tritt er ausserdem als Literaturkritiker im SRF Literaturclub auf. Dieses Jahr war Tingler Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis. Mit seinem Roman «Hübsche Versuche» debütierte er 2000 als Schriftsteller. Es folgten weiter Romane und Sachbücher sowie Ratgeber wie «Leichter Reisen – Benimmhandbuch» und «Ratgeber für unterwegs» (2011). «Rate, wer zum Essen bleibt» ist Tinglers achtes Prosastück.
Foto: © Nathan Beck

Das liegt nicht daran, dass der Autor über den komödiantischen Weg zum Ziel gelangen will. Witz und Tiefgang schliessen sich nicht zwingend aus. Schlechte Witze aber resonieren weit weniger klangvoll; sie stossen rascher an ihre eigenen Grenzen. Ein Schicksal, zu dem leider auch Tinglers Romanfiguren verurteilt sind – denn seine Figurenzeichnungen sind so flach wie die Witze, die er ihnen in den Mund legt. So funktionieren weder die pseudohumoristischen Faunavergleiche noch sein Versuch, seine Protagonisten psychologisch verankerte Handlungsmotivationen zu verleihen. Denn Franziskas vermeintliches Kindheitstrauma unterscheidet sie letztendlich weder von ihrem unsympathischen Ehemann noch von ihren arroganten Gästen. Und auch wenn Conni sich anfänglich mit ihrem Cocktail – oder ihrem Wein, mit oder ohne Glas – einen Namen macht, so fällt sie bald gar nicht mehr so damit auf, denn Tinglers Figuren haben allesamt mindestens ein leichtes Alkoholproblem.

Bisweilen hat es den Anschein, als würde sich Tingler darum bemühen, jede Möglichkeit der charakterlichen Vertiefung zu umgehen. Liegt darin das eigentliche Potenzial des Romans? Soll deutlich werden, dass die Bergung verschütteter Beziehungsstörungen nicht zwangsläufig bedeutet, dass man diese auch versteht? Oder ist die Moral der Geschichte, dass Traumata kein Alleinstellungsmerkmal sind? Möglich. Vielleicht nähert sich Tingler mit seinem neuen Roman bewusst dem Mittelmass an, von dem wir uns alle so fürchten.

Doch leider gelingt es Tinger nicht, hierzu eine klare Position zu beziehen. Dafür hätte er seinen Figuren auf Augenhöhe begegnen müssen, sie und ihre – vielleicht banalen – Wünsche und Hoffnungen ernst nehmen müssen. Stattdessen aber begegnet er ihnen vorwurfsvoll und herablassend, ja unreif. Dem Autor fehlt es an Warmherzigkeit und Empathie gegenüber seinen Romanfiguren. So stellt er sie in ihrer Unfähigkeit einzigartig zu sein, bloss. Und zugleich auch sich selbst.

Philipp Tingler: Rate, wer zum Essen bleibt. 208 Seiten. Zürich: Kein und Aber 2019, ca. 26 Franken.

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