KW18

Ein Licht in der Dunkelheit

Was verbirgt sich in den Schatten? Dieser Frage spürt Hansjörg Schertenleib in seiner Gespenstergeschichte «Die grüne Fee» nach und beleuchtet darin sowohl die Abgründe der menschlichen Psyche als auch unerklärliche Phänomene der physischen Welt.

Von Jacqueline Kalberer
2. Mai 2022

Es ist bereits dunkel, als Arthur Dold, ein siebzigjähriger Schweizer und der Erzähler der Geschichte, auf dem düsteren Landsitz seines besten Freundes Christian Aplanalp in Irland eintrifft. Aber wo ist Christian? Statt einer herzlichen Begrüssung erwartet Arthur ein einsames Abendessen im muffigen Salon, zu dem ihn die Haushälterin Bernadette geleitet. Erst mitten in der Nacht und in vollkommener Dunkelheit stattet Christian Arthur einen Überraschungsbesuch in dessen Schlafzimmer ab, was Arthur erschrocken aus dem Schlaf auffahren lässt. Im Schein einer kleinen Nachttischlampe dreht sich das folgende Gespräch jedoch um harmlose Themen wie das Wetter und das Altwerden.

So wechseln sich für Arthur auch während der nächsten Tage und Nächte beklemmende, teilweise sogar übernatürlich scheinende Erfahrungen und vollkommen gewöhnliche Situationen ab. Er trifft Christian zu den Mahlzeiten und besichtigt dessen Malatelier. Auf eigene Faust erkundet Arthur das Herrenhaus mit seinen Räumen, die existieren und doch auch nicht existieren und die Umgebung, die seiner Wahrnehmung Streiche spielt. In der Nacht des 6. Januar 2010, der Nacht vor Christians Geburtstag, erreichen die unerklärlichen Geschehnisse dann ihren Höhepunkt. Was für die beiden Freunde als gemütlicher Abend in der Bibliothek beginnt, wird im Alkohol- und Opiumrausch zu einem Hinübergleiten in eine andere Realität und endet in Flammen.

Zum Autor

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, lebt in Suhr (AG) und Spruce Head Island (Maine, USA). Ausbildung zum Schriftsetzter und Typographen, anschliessend Besuch der Kunstgewerbschule (ZH). Seit 1981 ist Schertenleib als freier Schriftsteller tätig und veröffentlicht Prosa, Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke. Als Journalist schrieb er für renommierte Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit, Stern, NZZ. Ausserdem war Schertenleib Gastprofessor in Boston und Oxford und Dozent am Literaturinstitut in Biel. Sein literarisches Schaffen wurde mehrfach prämiert, u.a. mit dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem ndl-Literaturpreis.
Foto: © Milena Schlösser

Spät-Romantik neu interpretiert

Inspiriert von seiner Wahlheimat Irland, wo er zwanzig Jahre gelebt hat, widmet sich der Zürich-stämmige Autor Hansjörg Schertenleib in Die grüne Fee dem Unbekannten, dem Übersinnlichen, dem Unerklärlichen. Damit wagt sich der freie Schriftsteller, unter anderem bekannt für seine Romane wie den Bestseller Das Regenorchester, zum ersten Mal an das spät-romantische Genre der Gespenstergeschichte heran. Ganz der Tradition E.T.A. Hoffmanns folgend, lässt Schertenleib seinen unzuverlässigen Erzähler die Handlung wiederholt kommentieren. Auch die genretypisch bildhafte Sprache ist in Schertenleibs Geschichte allgegenwärtig. Wie die Kerze auf dem Buchcover scheint Arthur ein unruhiges, flackerndes Licht darzustellen, das die Dunkelheit zu erleuchten versucht, die Christian umhüllt und verbirgt.

Flache Frauenfiguren

Verborgen bleibt in Schertenleibs Geschichte leider auch jegliche Charaktertiefe der weiblichen Figuren. Bernadette, die Haushälterin, wird zu einem Opfer des male gaze, indem sich ihre Beschreibung auf ihre äussere Erscheinung beschränkt und sie zudem das Klischee der unheimlichen, undurchschaubaren und dennoch erregenden Frau erfüllen muss, die in einer kurzen Episode sogar explizit zum Objekt männlicher Begierde wird. Darüber hinaus löst die Charakterisierung von Christians Ex-Frau Susanne als Wahnsinnige, die einen ihrer zahlreichen Ex-Männer sogar in den Selbstmord getrieben haben soll, ihren ganz eigenen Schauder aus.

Effektvolle Gruseldramaturgie

Trotz dieser unzeitgemässen Darstellung von Frauen gelingt Schertenleib seine Neuinterpretation der spät-romantischen Gespenstergeschichte insgesamt gut. Er versteht es, durch die gemeinsame Symbolik von Licht und Dunkelheit sowohl typisch romantische Gestaltungselemente wie auch Aspekte neuerer Werke und Autoren wie HP Lovecraft oder J.R.R. Tolkien, auf die er in expliziten Erwähnungen Bezug nimmt, zu einem unheimlichen Teppich zu verweben. Durch die stetige Zunahme unerklärlicher Ereignisse zeichnet Schertenleib einen effektiven Spannungsbogen, wobei das offene Ende den Schauer im Nacken der Leser:innen nicht vollständig aufzulösen vermag. Wie nach jeder guten Horrorgeschichte stellt man sich als Leser:in nach dem Zuklappen des Buchs unwillkürlich die Frage: Was verbirgt sich in den Schatten?

Hansjörg Schertenleib: Die grüne Fee. 128 Seiten. Zürich: Kampa Verlag 2022, ca. 22 Franken.

Mehr von Hansjörg Schertenleib

Weitere Bücher