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«Ein Text, der alles ausspricht, sagt mir nichts, gar nichts.»

Scherti

Hansjörg Schertenleibs «Die Fliegengöttin» setzt nicht nur mit der Wahl des Sujets «Sterbehilfe» Akzente, sondern wendet sich darüberhinaus auch dem Genre der Novelle zu. Im Rahmen von «Zürich liest» hat sich Laura Barberio mit dem Schweizer Autor, der mittlerweile die Hälfte des Jahres in Maine verbringt, getroffen und ein Gespräch über Sterbehilfe und das Zürcher Verlagswesen geführt.

Von Redaktion Buchjahr
3. November 2018

Herr Schertenleib, im Zentrum Ihrer neuen Novelle steht Willem de Wit, ein Mann, der sich um seine an Alzheimer erkrankte Frau Eilis kümmert. Könnten Sie unseren Lesern, die ihr Buch noch nicht kennen, kurz erläutern, was es mit dem vielsagenden Titel auf sich hat?

Für die klassische Novelle gibt es ja bekanntlich einige Bedingungen, die die Gattung stellt, und die eingehalten werden müssen. Eine davon ist der sogenannte ‹Falke›, ein roter Faden, der sich als Motiv durch den Text zieht; davon habe ich mehrere in die verschiedenen Ebenen meiner Novelle eingeflochten. Ein roter Faden etwa ist die titelgebende Fliege, von der Eilis behauptet, sie könne sie mit ihrem Willen dirigieren, als sei sie die Göttin der Fliegen. Dass sich der Titel meiner Novelle auf die Person bezieht, die an Alzheimer erkrankt, war mir zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Schreibprozesses klar, denn für mich ist nicht der Pflegende die Hauptfigur, sondern die Gepflegte.

Die Bedingung, die Sie angesprochen haben, geht mit der Gattungswahl einher. Wieso haben Sie sich überhaupt dafür entschieden, eine Geschichte mit so viel Stoff in eine Novelle zu konstruieren und keinen Roman zu schreiben?

Mich interessieren literarische Gattungen auch, weil sie mir gewisse Vorbedingungen geben, die ich für die Auseinandersetzung als sehr spannend empfinde. Wie kann ich das Zusteuern auf eine unerhörte Begebenheit umsetzen, was bedeutet es für die Dramaturgie eines Textes? Diese Voraussetzungen, die von aussen an mich herangetragen werden, finde ich produktiv, bleibt doch die Freiheit am Schreibtisch dennoch grenzenlos. Nimmt man die Gattung Roman ernst, müssen zwingend die Schicksale und Lebenswege mehrerer Personen miteinander verwoben sein, was aufgrund der Erzählanlage von Die Fliegengöttin nicht gegeben war. Denn der Text wird trotz einiger wichtiger Nebenfiguren eng am Leben des Ehepaares geführt. Die Fliegengöttin als Roman auszugebenen, wäre schlicht Etikettenschwindel, nur um gegebenenfalls das Buch besser verkaufen zu können, da der Buchhandel nach Romanen verlangt – warum auch immer.

Zum Autor

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, lebt in Suhr (AG) und Spruce Head Island (Maine, USA). Ausbildung zum Schriftsetzter und Typographen, anschliessend Besuch der Kunstgewerbschule (ZH). Seit 1981 ist Schertenleib als freier Schriftsteller tätig und veröffentlicht Prosa, Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke. Als Journalist schrieb er für renommierte Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit, Stern, NZZ. Ausserdem war Schertenleib Gastprofessor in Boston und Oxford und Dozent am Literaturinstitut in Biel. Sein literarisches Schaffen wurde mehrfach prämiert, u.a. mit dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem ndl-Literaturpreis.
Foto: © Milena Schlösser

Beim Lesen wird man davon überrascht, dass das Versprechen der Eheleute, sich gegenseitig zu erlösen, falls einer von beiden ein Pflegefall wird, nicht tiefgründiger behandelt wird.

Das Versprechen der aktiven Sterbehilfe steht als unerhörte Begebenheit vom ersten Satz an im Raum, darauf steuert die Erzählung zu. Auch deswegen habe ich mich darauf konzentriert, dieses Thema dezent zu behandeln und sozusagen zwischen den Zeilen aufscheinen zu lassen. Ein Feuer, das im Hintergrund des Textes lodert, ein Feuer, das man ahnt, jedoch kaum wirklich sieht. In ersten Textfassungen stand dies Versprechen deutlich im Zentrum, ich sah aber bald, dass dem Text somit ein Geheimnis genommen wurde und ich meinen Leserinnen und Lesern zu wenig zutraute. Die Leserschaft spürt auch ohne den erzählerischen Holzhammer, dass das Versprechen Willem heillos überfordert. Literatur soll zeigen, nicht behaupten, soll andeuten, nicht ausformulieren. Ein Text, der alles ausspricht, sagt mir nichts, gar nichts. Ein gutes Buch wird erst fertiggeschrieben, in dem es gelesen wird.

Neben der Tatsache, dass sich Willem dafür entscheidet, das Versprechen nicht einzulösen, beschreibt der Schluss auch, wie sich Willem nach langer Zeit wieder einmal zu seiner Frau ins Bett legt. Ist dies als Ende oder als Neuanfang zu lesen?

Natürlich wollte ich damit auch gewisse Lesererwartungen, unter anderem meine eigenen, unterlaufen. Wenn das Einlösen des Versprechens schon im ersten Satz angekündigt wird und dann auch eintrifft, ist mir das zu einfach, billig. Ausserdem wollte ich die Leserinnen und Leser nicht mit einem derart dunklen Schluss entlassen. Es war mein Schreibziel, das Schwere leicht zu machen, schwebend. Ich bin froh über die Entscheidung, diesen eher positiven Schluss gewählen zu haben – auch weil ich eine Fassung geschrieben habe, in der Willem das Versprechen einlöst. Hätte ich diese Fassung gewählt, wäre ich nicht darum herum gekommen, mir Gedanken über mögliche Konsequenzen für Willem zu machen. Hätte er sich danach das Leben gemommen? Hätte er sich den Behörden gestellt? Im katholischen Irland, in dem meine Novelle spielt, wird aktive Sterbehilfe ganz anders beurteilt, auch juristisch, als in der Schweiz, die in diesem Punkt sehr liberal ist. Diese weiterführenden Handlungsstränge waren für mich jedoch nicht von Interesse. Ich wollte die Liebesgeschichte ins Zentrum rücken, die geglückte Liebesgeschichte, die in der gewählten und gedruckten Fassung nun noch zumindest eine Nacht weitergehen kann.

Trotz dieser grossen, innigen Liebe des Ehepaares wird vor allem von Willem nicht nur ein positives Bild gezeichnet. Er verstösst seinen homosexuellen Sohn, gibt einer Tochter die Schuld für den Tod ihrer Schwester, entzieht sich der Verantwortung als Vater in seiner vorherigen Beziehung und hat eine Affäre mit der Frau des besten Freundes. Auf den ersten Blick nicht gerade eine sympathische Persönlichkeit.

Es gibt in jeder Biographie Brüche und dunkle, nein schwarze Stellen, Leichen im Keller. Dies nicht zu bespielen, wäre dramaturgisch gesehen nachgerade dumm. Es gibt keine makellose Biographie. Zum Licht gehört der Schatten. Buchfiguren sind so vielschichtig wie es die Menschen sind. Ich wollte über eine geglückte Ehe schreiben, eine Ehe, in der beide mit der Unvollkommenheit umgehen können, Fehler sehen und akzeptieren und wissen, das Leben ist vielschichtiger und darum komplizierter, als es in billigen Unterhaltungsromanen dargestellt wird.

Die berührende wie aufrührende Geschichte wird – abgesehen von den beeindruckenden Naturbeschreibungen – sehr sachlich und teilweise distanziert erzählt. Daraus resultiert eine gewisse Diskrepanz zwischen Inhalt und Sprache. Wieso haben Sie sich für diesen Erzählstil entschieden?

Ich habe lange darüber nachgedacht, in welchem Ton, mit welcher Sprache ich die emotional doch sehr aufgeladene Geschichte erzählen soll. Um jeden Kitsch zu vermeiden, habe ich die Sprache entschlakt, habe reduziert statt auszuschmücken, habe Lautstärke weggenommen. Der Text war in früheren Fassungen deutlich länger, ich habe sehr viel gestrichen, gekürzt, wollte sprachlich so wenig Fleisch am Knochen wie irgend möglich. Mein Blumenstrauss besteht im Falle von Die Fliegengöttin aus zwei, drei Blumen, ist bewusst kein üppiges, vor Farben explodierendes Bouquet. Auch als Leser gefällt mir übrigens das Üppige immer weniger. Für meine Novelle spielt kein Sinfonieorchester auf, sondern ein kleines Quartett, das leise und bescheiden, aber an den richtigen Stellen voller Intensität spielt.

Mit der Fokussierung der aktiven Sterbehilfe haben Sie sich thematisch auf neuen literarischen Boden begeben. Was hat Sie dazu geführt?

Auch aus persönlichen Gründen, um offen zu sein. Meine Schwiegermutter war mit ihrem Mann in einer ähnlichen Situation. So wurde mir schon vor Jahren bewusst, dass wir mit unserem Gesundheitswesen auf etwas zusteuern, das nicht gut kommen kann. Es gibt immer mehr Menschen, die an Alzheimer und Demenz erkranken, man weiss nicht, wo man diese Menschen unterbringen, wer sie pflegen kann. Damit kommt eine Riesenaufgabe auf uns und unser Gesundheitssystem zu. Das wollte ich nicht explizit zum Thema machen, doch es wird angedeutet, schwingt mit.

In der Schweiz ist die Sterbehilfe kein kontroverses Thema. Nach 22 Jahren in Irland wohnen Sie jetzt in Maine und sind auch sonst sehr international unterwegs. Wie sehen Sie das Thema im internationalen Kontext?

Die Geschichte spielt natürlich nicht aus Zufall in Irland. In der Schweiz wäre Eilis schon lange Mitglied bei Exit und Willem könnte die Verantwortung abgeben. In dem noch immer stark katholischen Irland ist das nach wie vor undenkbar. Für die Figur von Willem ist das entscheidend, denn ich nehme ihm den Ausweg ‹Exit›, gebe ihm alle Verantwortung. Er selbst muss sich entscheiden, muss aktiv werden und handeln. Ich selbst würde übrigens alles daran setzen, ein solches Versprechen einzulösen, da ich es für den grössten Beweis der Liebe halte, wenn der Mensch, den man über alles liebt, sich das bei vollem Bewusstsein gewünscht hat. Darum bin ich überzeugt, dass Willem das Versprechen zu einem späteren Zeitpunkt, also nach dem Ende der Novelle, einlösen wird.

Herr Schertenleib, zum Abschluss noch etwas anderes. Was ist eigentlich los mit der Schweizer Buchbranche? Sie sind einer von drei neuen Autoren beim Kampa Verlag. Wieso haben Sie den Verlag gewechselt?

Grundsätzlich: Jemand, der heute einen Verlag gründet «isch ja nöd ganz bache». Genau wie jemand, der heute Bücher schreibt, die sich nicht dem Publikum an die Brust werfen und also nur eines wollen: Erfolg haben, wirtschaftlichen Erfolg, keinen künstlerischen – und damit nur ein Ziel kennen: die Bestsellerlisten. Diese Art Literatur interessiert mich weder als Autor noch als Leser. Sie geht mir, um es deutlich zu formulieren, am Arsch vorbei. Es sei denn, sie ist sich bewusst, Genre-Literatur zu sein. Mit anderen Worten: ich lese gerne Krimis und Thriller, mache aber einen grossen, sehr grossen Bogen um Bücher von Autoren wie Capus, Meyer oder Lewinsky. Bei Aufbau, wo sieben Bücher von mir erschienen, habe ich mich mit jedem Programm, das sie publizierten, unwohler gefühlt. Der Verlag wusste offenbar nicht, was er literarisch wollte und verlor alle Autorinnen und Autoren. Aber vielleicht ändert sich dies gerade, denn auch in Lektorat und Verlagsleitung hat sich bei Aufbau nahezu alles geändert. Ich wollte endlich mit einem Verleger arbeiten, der für die Literatur brennt wie ich für die Literatur brenne. Jemand, der an die Kraft des Buches glaubt, der weiss, Literatur kann zwar nicht die Welt, aber den Menschen ändern. Besser machen? Anders! Mein neuer Verleger Daniel Kampa will natürlich Bücher verkaufen. Aber er ist auch bereit, Bücher zu publizieren, die es schwer haben werden, ein Publikum zu finden. Das gefällt und entspricht mir. Ich bin nämlich nicht Autor geworden, um mich anzupassen, sonst wäre ich in die Werbebranche gegangen oder würde versuchen, Drehbücher für Fernsehfilme zu schreiben. Was ich übrigens nicht despektierlich verstanden haben will. Ich liebe Fernsehserien wie Babylon Berlin, Breaking Bad und House of Cards. Aber auf das Theater mit Produzenten, Fernsehanstalten etc., das jedem Drehbuchautor blüht, kann ich getrost verzichten. Mit anderen Worten: ich liebe es, alleine für einen Text verantwortlich zu sein. There is no one else to blame but me – zumindest so lange, bis die Auseinandersetzung mit der Lektorin beginnt. Und diese Auseinandersetzung ist im Falle Kampa dem Texte förderlich und nicht in erster Linie der Verkäuflichkeit.

Sie haben eine Ausbildung als Typograph gemacht. Wie muss denn ein Buch aus Ihrer Sicht heute aussehen, damit es noch gelesen wird? 

Zum Beispiel wie Die Fliegengöttin. Als ehemaliger Bleisetzer und Typograph achte ich sehr darauf, wie ein Buch gestaltet ist. An meiner Novelle gefällt mir, dass sie altmodisch wirkt und mit dem kleinen Format in meiner Jackentasche Platz findet. Ausserdem gefällt mir, dass im Buch nichts zu meiner Person steht, keine Biographie, kein Foto, nichts. Die Geschichte, die ich erzähle, steht im Zentrum. Der löchrige Kamm auf der Vorderseite ist ein grossartiges Bild für etwas, das nicht mehr länger perfekt ist, nicht mehr richtig funktioniert. Ich selber wäre nie auf diese Bildidee gekommen, es illustriert wunderbar die Erinnerungslücken und hat zudem einen Bezug zur erzählten Geschichte, da Willem Eilis die Haare kämmt.

Das Gespräch führte Laura Barberio.

Hansjörg Schertenleib: Die Fliegengöttin. 176 Seiten. Zürich: Kampaverlag 2018, 24.50 CHF.

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