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Im Angesicht des Todes

Anna Stern

Daniel de Roulet schreibt Briefe an seinen verstorbenen Vater, in denen es um den Tod und das vergangene Leben geht. Doch nicht nur das, er schreibt auch eine Ode an das Leben und die Literatur, für alle, die gerne kurze, unverblümte Worte lesen. «A la garde. Lettres à mon père pasteur», wie de Roulets «Brief an meinen Vater» im Original heisst, ist das neueste und vielleicht persönlichste Werk des Genfer Autors.

Von Xenia Bojarski
19. Oktober 2020

Im Countdown

Die Briefe, die Daniel de Roulet an seinen verstorbenen Vater zu schreiben beginnt, nehmen die Form eines Countdowns an. Der Countdown beginnt mit dem Moment, in dem er erfährt, dass seine Mutter ihren Tod nicht dem Zufall überlassen möchte, sondern mit Exit aus dem Leben gehen wird. 14 Tage und 14 Briefe liegen zwischen der Verkündung und dem Vollzug, 14 Briefe, in denen de Roulet die Biografie seines Vaters aufarbeitet, sich selbst mit dem Tod und der Trauer auseinandersetzen muss und die Literatur sowie das Schreiben einen besonderen Platz darin finden.

Zum Autor

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 ist er Schriftsteller; für seine zahlreichen Romane wurde er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.
Foto: © Erling Mandelmann

Er schreibe seinem Vater, um zu erklären, wie alles abläuft, nachdem die Entscheidung für den Freitod seiner Mutter gefallen ist. Das schreibende Ich will die Dinge so unverblümt wie möglich sagen und sich an die Fakten halten. Sachlich über den Tod eines nahen Angehörigen zu sprechen scheint jedoch beinahe unmöglich. Daniel de Roulet gelingt es nichtsdestotrotz. Nüchtern erzählt er von den Prozeduren und wiederholten Befragungen, die seine Mutter über sich ergehen lässt und ihrem eisernen Willen, nun auch diesen Schritt so zielstrebig zu gehen wie bis anhin. Seine Einsicht: «In diesen Tagen sage ich mir, dass der Tod etwas Natürliches ist. Weniger natürlich ist das Leben. Zweifellos ein Wunder. Oder?» Obwohl de Roulets Sprache sich durch ihre Schlichtheit auszeichnet, darf man sie keinesfalls für distanziert halten. Eindringlich und voller Gefühl beschreibt de Roulet die letzten Tage seiner Eltern, auch ohne grosse Worte. Auf Französisch verwende er niemals Wörter, die mehr als vier Silben enthalten. Eine Regel, die auch seine Übersetzerin einhalten muss und so de Roulets Stil und Sprachrhythmus über die Sprachgrenze hinweg spürbar werden lässt.

Ein Pfarrerroman?

Daniels Vater, der bereits vor sechs Jahren verstorben ist, pflegte als calvinistischer Pfarrer einer kleinen Gemeinde im Jura selbst ein besonderes Verhältnis zum Tod. Obgleich er gewollt habe, dass seine Kinder am Glauben festhalten, bezeichnete er die Bibel selbst als Sammlung alter Texte, geschrieben von Menschen aus anderen Zeiten. Dass er auch sonst kein gewöhnlicher Pfarrer war, belegt de Roulet mit Anekdoten, die er pointiert erzählt und die Momente des Schmunzelns in die klamme Trauerumgebung bringen – hierfür sorgt etwa jene Episode, in der der Vater allen 14-jährigen des Dorfes Sexualkundeunterricht erteilt. Er zeichnet ein so eindrückliches Bild seines Vaters, dass den Briefen bisweilen ein Zug der Dialogizität anhaftet.

Nicht zuletzt, so führt der Briefschreiber aus, habe ihn sein Vater den Respekt vor Büchern gelehrt – und so sprechen auch die Briefe nach und nach immer mehr über Literatur. Der Sohn beginnt damit, Pfarrerromane zu besprechen und muss sich dabei unweigerlich die Frage stellen, ob er nun selbst gerade einen solchen verfasst. Er denkt über Rousseau nach und langt schliesslich wiederholt bei der Frage an, wie er, ohne an Gott zu glauben, selbst über den Tod denkt und wie er ihm entgegentreten kann. Wiederholt kommt er zum Schluss: Dem Tod ist mit dem Leben zu begegnen. So zeigt de Roulets Brief an meinen Vater auf wenigen Seiten, was Literatur alles sein kann: Ein Ort zum Verarbeiten, Trauern, Hoffen und zum Leben.

Daniel de Roulet: Brief an meinen Vater. 80 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2020, 22 Franken.

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