KW42

Zwischen Schwerfälligkeit und philosophischer Tiefe

Anna Stern

Bestsellerautor Pascal Mercier legt einen neuen, nicht nur dem Titel nach gewichtigen Roman vor. Auf fast 600 Seiten spürt «Das Gewicht der Worte» dem Zusammenhang von Selbstbestimmung und Lebensrhythmus nach.

Von Laura Barberio
12. Oktober 2020

Es gibt zwei Wirklichkeiten. Die vor und die nach der Diagnose. Es ist der Moment, der für Simon Leyland alles verändert. Nach einem Migräneanfall, bei dem er plötzlich einseitig gelähmt ist und nicht mehr richtig sprechen kann, erhält er die vernichtende Nachricht, er leide an einem Gehirntumor im Endstadium und habe nur noch wenige Monate zu leben. Seine Kinder Sophia und Sidney stehen ihm in dieser schwierigen Zeit zur Seite. Seine grosse Liebe Livia ist bereits vor einigen Jahren verstorben und hat ihm ihren Verlag in Triest überlassen, den er seither aufopferungsvoll weiterführt. Leyland ist Übersetzer und ständig damit beschäftigt die richtigen Worte und den passenden Ton zu finden. Seit seiner Kindheit ist er von Sprachen fasziniert. Er hat den grossen Traum, alle Sprachen rund um das Mittelmeer zu lernen. Nach zwei Monaten jedoch folgt die grosse Wendung: Leylands radiologische Aufnahmen wurden in der Klinik vertauscht. Leyland leidet lediglich an einer Durchblutungsstörung infolge einer starken Migräne.

Von nun an widmet sich der Roman der Frage, wie man in ein Leben ohne klare Deadline zurückkehren kann, nachdem man die Endlichkeit des Lebens so erbarmungslos erfahren musste. Leyland versucht nun endlich seine eigene Sprache zu finden, um seine eigene Geschichte schreiben zu können. Doch wie findet man die richtigen Worte und wie erschafft man seine eigene Geschichte, wenn man bisher immer eine Vorlage hatte und in die Melodie anderer Autor*innen einstimmte?

Zum Autor

Pascal Mercier, 1944 in Bern geboren unter dem Namen Peter Bieri, lebt in Berlin. Mc Studium der Philosophie, Anglistik und Indologie in Heidelberg. 1971 Promotion zur Philosophie der Zeit, danach Habilitation. Bis 2007 besetzte Mercier den Lehrstuhl für Philosophie an der FU Berlin. Sein literarisches Debüt gab er 1995 mit «Perlmanns Schweigen» unter seinem Pseudonym Pascal Mercier. Mit seinem dritten Roman «Nachtzug nach Lissabon» (2004) avancierte Mercier zum internationalen Bestsellerautor. Für sein literarisches und philosophisches Werk wurde er mehrfach prämiert, u.a. mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis (2006) und der Lichtenberg-Medaille der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2007). Mit Das Gewicht der Worte veröffentlicht Pascal Mercier sein fünftes Prosastück.
Foto: © Paula Winkler

So ist Leylands Leben nach der Entdeckung des Irrtums geprägt von der Auseinandersetzung mit den existentiellen Themen des Daseins. Leyland versucht sich in London einzurichten. Es dauert jedoch, bis sich Leyland wieder zurechtfinden kann, da er im Angesicht seines bevorstehenden Todes bereits alles geregelt hat und nun nach dem Verkauf des Verlags vor dem Nichts steht.

Alle Figuren im Roman interessieren sich für Bücher, das Verlagswesen und die Sprache an sich. Sie erscheinen dabei selbst jedoch eher wie leere Worthülsen, die uns Leser*innen nicht tiefer blicken lassen. Gleichzeitig wird der Roman immer mehr zu einem Plädoyer für selbstbestimmtes Sterben. Sterbehilfe sei kein Mord, darin sind sich alle Protagonisten einig. Deshalb sind für sie die ausführlich verhandelten Gerichtsurteile aus Italien und England nicht nachvollziehbar. Das gipfelt schliesslich in einer stillen Auflehnung der Figuren gegen die Medizin und die Justiz.

Bei den 573 Seiten von Merciers Roman bekommt man titelgerecht tatsächlich ein Gefühl für das Gewicht der Worte. Lässt man sich auf die vielen philosophischen Verästelungen und ausschweifenden Beschreibungen der Figuren ein, ist es ein tiefgründiger Roman, der zum Denken anregt und uns die Wucht des Lebens am eigenen Leib erfahren lässt. Dafür darf man dann auch nicht viel von der Handlung erwarten, aber darum geht es in Gewicht der Worte auch nicht. Der Text ist eine Auseinandersetzung mit dem Leben und dessen Endlichkeit, sowie mit den Eigenheiten der unterschiedlichen Sprachen und wie wichtig es ist, die eigene Melodie zu finden. Nicht zuletzt ist der Roman eine Ode an zwischenmenschliche Beziehungen. Die grosse Bedeutung des familiären Zusammenhalts wird ebenso deutlich wie die Schönheit und grosse Intimität, die in Freundschaften entstehen kann.

Als gut gemeinter, auf Dauer jedoch schwach umgesetzter Einfall erweisen sich dabei die in den Roman montierten Briefe an Livia, die Leyland seit ihrem Tod schreibt. Während die Ausführlichkeit dieser Briefe den Eindruck erweckt, dass sie tatsächlich existieren und so geschrieben wurden, leidet das Leseerlebnis erheblich unter den häufigen Wiederholungen der Geschehnisse. Zuerst wird aus Leylands Perspektive etwas geschildert, dass dann in einer sehr ähnlichen Schilderung in einem Brief nochmals wiedergegeben wird, als wäre das Lesepublikum nicht in der Lage, die Situation selbst richtig einzuschätzen. Dadurch zieht sich der ohnehin schon eher langsame und ausschweifende Text unnötig in die Länge und verliert an Rhythmus. In einem Roman, der so viel Wert auf die den gelingenden Lebenstakt legt, wirkt dieser Leseeindruck dann doch zunehmend störend.

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte. 576 Seiten. München: Carl Hanser Verlag 2020, ca. 28 Franken.

Weitere Bücher