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Weiterschlafen im 21. Jahrhundert

Jürg Halter © Eva Günter

Jürg Halters erster Roman nimmt es mit der ganzen Welt auf, findet dafür aber weder eine eigene Sprache noch eine überzeugende Haltung.

Von Laura Clavadetscher
13. Oktober 2018

Einmal so richtig doll die Welt retten – der ewige Tagtraum der Jugend. Als literarische Gattung firmierte er einst unter dem Label Engagierte Literatur, die in der Schweiz, angesichts des dystopischen Newstrends, momentan eine kaum verblüffende Renaissance erfährt. Jeder will ein bisschen maxfrischiger sein als die anderen. Jürg Halter geht in seinem Debütroman allerdings eher einer Light-Version dieses Genres nach: der Watschn-Literatur, die sich mit Furor gegen die Monotonie ihres eigenen Programms wendet, das eigentlich nur aus einem Leitmotiv besteht: Jeder kriegt sein Fett weg. Umklammert von einer Schmonzette der betrüblichsten Art (Kaspar, der Protagonist, wurde verlassen), die in manierierten Liebesbriefen mehr beschworen als geschildert wird, feuert Kaspar in einem assoziativ disponierten Konvolut seine Invektiven gegen die Übel einer fürchterlichen Gegenwart: Literaturbetrieb, Amazon, Gentechnologie, Hedgefonds-Manager oder gleich die Menschheit als Ganzes beziehungsweise, in trivial-orwellscher Diktion, das System.

Zum Autor

Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern (HKB). 2005 debütierte Halter mit dem Gedichtband «Ich habe die Welt berührt», es folgten weitere Lyrik, Hörbücher, zahlreiche Auftritte, mehrere Auszeichnungen und Aufenthaltsstipendien; 2015 Shortlist für den Bachmannpreis. Zwischen 2005 und 2015 veröffentlichte Halter unter dem Namen «Kutti MC» auch zehn Alben.
Foto © Johannes Puch.

Halter, dessen Vita auch eine Karriere als Mundart-Rapper aufweist, folgt hier dem Strukturprinzip eines Rap-Albums: bisschen Lovestory, bisschen System-Bashing, bisschen Verzweiflungselaborat – alles wird trackweise portioniert und abgehandelt. Mal parodistisch, mal essayistisch in der Qualität von flüchtig fabrizierten Leitartikeln, mal in Form fingierter Dialoge – stur nach dem Motto: tell, don’t show. Die im Roman bemühte Vulkan-Metapher reflektiert die narrative Methodik des Textes durchaus adäquat. In der letzten Nacht, ehe Kaspar ans westliche Ende Europas reisen will, um – genauer kriegt man’s nicht – endlich mal die Welt zu retten, kann er nicht schlafen und stromert stattdessen durch seine Wohnung. Allerorten, im Bett wie in der Badewanne, überfallen ihn eruptiv geistige Reflexe, die Halter durch einen Zuwachs an Wörtern, freilich nicht durch Gedanken, zu Reflexionen aufrüsten will. Untergraben wird diese Absicht durch dreierlei Mängel: an originärer Sprache, an originärer Haltung und an kritischer Substanz. Im letzten Brief an Josephine zitiert Kaspar sie mit einem Urteil über ihn: «Du analysierst noch, ich beobachte schon.» Tatsächlich passiert in diesem Roman beides nicht. Sollen einzelne Bestandsaufnahmen des gegenwärtigen Menschheitszustandes nicht bloss populistisch gestärkte Phrasen sein, müssen sie sich durch die Originarität ihrer Sprache, ihrer Haltung oder ihrer Einsichten auszeichnen – da der Text aber selbst mit dem Vokabular und der Denkstruktur der Populisten operiert, gelangt er über die übliche Phraseologie nicht hinaus. Will ein Roman sich gegen den Status quo wenden, ohne sich analytisch oder sprachlich von ihm zu emanzipieren, wird er selber zum Parasiten dieses Status quo und gerade kein potenter Gegenentwurf.

Anfangs erklärt Kaspar einmal: Jeder, aus welcher politischen Ecke er auch käme, veranschlage den «gesunden Menschenverstand» für sich – und jeder habe für sich genommen auch recht damit. Hier deutet Halter eine Ambivalenz an, eine komplexe Gemengelage, die er aber im weiteren Verlauf desavouiert, indem er die sattsam bekannten Sündenböcke als Klischees reproduziert und so die fantasielose Trennlinie zwischen den guten Guten und den bösen Bösen nur weiter etabliert, statt sie, wenn schon nicht zu zersetzen, so wenigstens in Frage zu stellen. Ein altes Manuskript, das Kaspar findet, ist überschrieben mit «Authentizität» – leider galt dieser Titel nicht als Ansporn für Halters Roman. Nicht zuletzt die Romanze mit Josephine, eine abgeschmackte Bubenphantasie ohne eigenen Charakter, demonstriert die Attitüde als heimliches Triebwerk dieses Textes. So unnatürlich wird sonst nur in Trivialromanen geliebt. Die rütteln freilich niemanden wach.

Jürg Halter: Erwachen im 21. Jahrhundert. 227 Seiten. Basel: Zytglogge 2018, ca. 29 Franken. Auch beim Buchjahr: Jürg Halter: Mondkreisläufer.