KW38

Zwischen Poethreesome und Favela Chic

Babel

In seiner dreizehnten Ausgabe durchreiste das internationale Literatur-und Übersetzungsfestival «Babel» die Weiten Brasiliens, eine Welt, in der die Sonne einen Schatten wirft: ein Land, dessen marginale Position sich in der prekären Sozialstruktur widerspiegelt und Themen wie Rasse, Geschlecht, die Differenz von Stadt und Land in den Vordergrund rückt. Vertreten war in Bellinzona nebst den auch in Brasilien noch wenig bekannten literarischen Stimmen alles, was in der Tessiner Literaturszene Rang und Namen hat. Das Resultat: eine anregende Symbiose zweier doch sehr unterschiedlicher Welten. Gianna Conrad war fürs «Buchjahr» vor Ort.

Von Gianna Conrad
22. September 2018

Im Fokus des Festivals stand eine liquide Form des Schreibens, die einerseits anthropologische Studien mit Musik verschmelzen lässt und andererseits die Praxis und Metaphorik der Übersetzung miteinander in den Dialog setzt. Mit anderen Worten: Eine künstlerische Triade zwischen Literatur, Übersetzung und Musik. Als verlässlicher Begleiter erwies sich dabei einmal mehr der Quaderno di Babel («Babelheft»), der nicht nur wie ein Kompass dem Besucher einen Überblick über das Festivalprogramm verschaffte, sondern vor allem auch die noch unveröffentlichten Texten der beteiligten Autorinnen und Autoren – übersetzt ins Italienische – enthielt. «Das Übersetzen ist ja schliesslich in der DNA von Babel gespeichert», wie Fabio Pusterla erklärte.

Der Freitagabend begann in einem bis an den Rand gefüllten Saal mit der Eröffnungsrede von Vanni Bianconi (künstlerische Leitung) und Fabio Pusterla (Mitbegründer von Babel), welche beide die Intensität und Freude der brasilianischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller – «ihr Talent­», ­so Bianconi, «mit der Sprache und Literatur wie Feuerwehrleute auf das in Brasilien vorherrschende kulturelle und soziale Feuer einwirken zu können» – herausstellten. Im Anschluss daran folgte ein Terzett der jungen Schweizer Autorinnen Prisca Agustoni, Gianna Olinda Cadonau und Marina Skalova, die sich gegenseitig in die verschiedenen Sprachen übersetzten. Die vielgerühmte Babel Edition der «Poethreesome» war dieses Jahr ausschliesslich in weiblichen Händen und erstmals auch in allen vier Landessprachen vertreten. Nach einer Lesung, in der die drei Autorinnen manchmal mehr auf die korrekte Sprachwahl als auf ihre eigene Poetik legten – eine Lesung, die thematisch vor allem Kriegshandlungen und Gewalt gegenüber weiblichen Körpern kreiste -, schloss sich der abendliche Kreis im Innenhof des Teatro Sociale bei einer Leseperformance der brasilianischen Aktivistin und Slam-Poetin Adelaide Ivánova. Diese konfrontierte das Publikum mit einigen Auszügen aus ihrem feministischen Manifest O martelo (edições garupa 2017), bevor man sich dann bei einem echten Churrasco und bei dem einen oder anderen Glas Wein in der Nähe der grossen Zeder beim Seehundbrunnen vor dem Regierungsgebäude zusammenfand, neue Kontakte knüpfte und alte Bekanntschaften pflegte.

Den Samstag eröffnete ein Gespräch zwischen der aus São Paolo stammenden Autorin Beatriz Bracher und ihrer Übersetzerin, Prisca Agustoni, die in der italienischsprachigen Literatur der Schweiz eine bereits bekannte Grösse ist und selbst seit 15 Jahren in Brasilien lebt. Am Beispiel der Protagonistin ihres Romans Azul e Dura (editora 34 2010) verschaffte Bracher dem Publikum einen sorgfältigen Überblick über Brasiliens Sozialpolitik und das durch diese bedingte komplexe sozialpsychologische Geflecht, dessen Widersprüche Brachers Erzählungen so präzise wie mitreissend offenlegen. Einen der Höhepunkte des zweiten Tages bildete sodann das dem Gesamtwerk Clarice Lispectors gewidmete Gespräch zwischen Lispectors Übersetzer Roberto Francaville und dem italienischen Schriftsteller Emanuele Trevi. Letzterer entpuppte sich im Gespräch als tiefgründiger Literaturkritiker, der den Werken Lispectors eine marxistische, psychoanalytische wie feministische Note abzugewinnen vermochte.

Auch im zweiten Programmteil standen ausschliesslich Frauen: Asil Erdogan, Prisca Agustoni, Adelaide Ivánova und Michelle Steinbeck – alle hatte es einmal von Europa nach Brasilien gezogen, um der Gewalt zu entfliehen, um sie kennenzulernen oder um sie wiederzufinden. Insbesondere zwei Autorinnen zogen dabei die Aufmerksamekit auf sich: Zum einen die türkische Schriftstellerin Asil Erdogan (Kirmizi Pelerinli Kent, Everest Yayinlari 2000), die einen kritischen Blick von aussen, nämlich durch das Prisma der militärischen Repression in der Türkei, auf die politische Situation in Brasilien im Allgemeinen und auf die Stadt Rio de Janeiro im Speziellen warf, um zugleich auf ihre Nahtod-Erfahrungen sowie die sprachliche und alltägliche Gewalt Brasiliens zu verweisen vermochte. Zum anderen die Schweizer Autorin Michelle Steinbeck, die von ihren persönlichen Favela Chic Erfahrungen berichtete. Sie erzählte von jungen Männern, die an der Bar in Rio vorbeiwischen, von den Sonnenauf- und untergängen über Ipanema, von Kindern, die durch die Gitter schauen und mit einer Wasserpistole herumschiessen oder von grünen Eiern, die auf dem Sand ausgebrütet werden. Lässig und frech erschien Steinbeck, wie immer, und vielleicht imponierte sie der Verfasserin dieses Beitrags nicht zuletzt deswegen, weil sie ihre Gedichte nicht nur auf Italienisch vorlas, sondern sie nur 10 Minuten vor Beginn der Lesung gemeinsam mit ihr und Barbara Sauser vor dem Eingang des Saals übersetzte. Einen wunderbaren und gelungenen Abschluss des Abends gab dann das Konzert von Arto Lindsay und Marivaldo Paim ab, eine performative Meisterleistung an der Schnittstelle von Bossa Nova und dadaistisch angehauchtem Experiment.

Schön war es – und auch im kommenden Jahr werden wir uns sicherlich auf die andere Seite des Gotthards begeben – nach Babel.