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Eine zwiespältige Hommage

Jürg Halter © Eva Günter

Heinz Helles dritter Roman «Die Überwindung der Schwerkraft» ist für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sehr zu recht.

Von Timothée Melly
7. Oktober 2018

Lange Nächte

Zwei Brüder schweifen in einer Winternacht durch Münchner Kneipen und unterhalten sich über grosse Fragen des Lebens. Was beide nicht wissen: Der Ältere stirbt bald. Aus der Rückschau erinnert sich der Jüngere an das letzte Zusammensein. Dass vieles auf den Tod seines Halbbruders hinwies, kann er im Nachhinein nicht übersehen: Dieser war alkoholsüchtig und mit Ausnahme einiger teils zufriedener Phasen in Zürich und München meist unglücklich. Die Erinnerung an den Verstorbenen nützt der Überlebende zur Möglichkeit, dem Toten eine letzte Hommage zu widmen und auf diese Weise mit dem eigenen Schuldgefühl umzugehen.

Was aber für eine Hommage?

In Sätzen, die trotz ihrer Länge überschaubar bleiben und sich quasi rauschhaft zum Weiterlesen aufdrängen, gibt der Ich-Erzähler den Leserinnen und Lesern einen Einblick in die Weltanschauung des Verstorbenen. Diese ist von philosophischen Fragen nach dem Guten, Wahren und Schönen geprägt. Konkret interessiert sich der Bruder, der Teile seiner Kindheit mit der Mutter in den USA verbracht hat, im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation für militärische Operationen, die deutsche NS-Vergangenheit und die unheilvolle Geschichte des belgischen Sexualstraftäters Marc Dutroux. Obwohl – oder gerade weil – es dem Bruder immer um ein grosses Ganzes gegangen ist, sind von seinen Anstrengungen überwiegend erratische, schwer zu entziffernde und noch schwerer zu verstehende Schriftstücke geblieben.

Zum Autor

Heinz Helle, Jahrgang 1978, studierte Philosophie, arbeitete als Texter in Werbeagenturen und absolvierte das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Heute lebt Helle mit seiner Familie in Zürich. Seine ersten drei Romane wurden jeweils für den Deutschen oder den Schweizer Buchpreis nominiert.
Foto: © Max Zerrahn

So lassen es die Gedanken und Kommentare des jüngeren Bruders, der schliesslich wirklich Philosophie studierte, erahnen, dass er an der Schärfe der philosophischen Überlegungen des älteren Bruders zweifelt, sich von dessen Kompromisslosigkeit jedoch angezogen fühlt.

Kein Koala

Auch wenn die philosophischen Überlegungen des Bruders keine wissenschaftliche Systematizität für sich beanspruchen können, erhält der Text seinen literarischen Mehrwert aus einem ausgewogenen Wechselspiel zwischen tragischem Ernst einerseits und empathischer Ironie andererseits. Konkreter gesagt, sind die wiedergegebenen existenziellen Überlegungen des älteren Bruders durch die selbstreflexive Nüchternheit des Ich-Erzählers sowie humorvolle Einschübe oder noch poetische Wahrnehmungsverschiebungen (z.B. als die Wörter nur noch als Klänge beschrieben werden) verlebendigt. Anders als beispielsweise Lukas Bärfuss´ ebenfalls seinem Halbbruder gewidmetes Requiem Koala setzt sich Die Überwindung der Schwerkraft den losen Enden eines gescheiterten Lebens ungeschützt aus: Wo Bärfuss auf die australische Siedlungsgeschichte ausweicht, lässt Helle seinen Erzähler ratlos vor biographischen Splittern wie einem vielleicht nur erfundenen Kind mit einer Prostituierten, einem Verlassenwerden im Parkhaus einer Abtreibungsklinik oder einer abgebrochenen Werberkarriere stehen.

Recherchen

Der Gedankenstrom des Ich-Erzählers befreit sich im Laufe der Seiten von jenem letzten gemeinsamen Abend und führt den Leser durch Assoziationen zu ausgesuchten Stationen aus den Leben der zwei Brüder. Dabei überschreitet der Text die Grenzen zwischen Realität, Traum und Fiktion sowie die zwischen individueller und kollektiver Erfahrung.

Die lückenhafte Rekonstruktion des letzten gemeinsamen Zusammenseins dient als Ausgangspunkt für die Erinnerungsproblematik im Allgemeinen: Die sich teilweise widersprechenden Kindheitserinnerungen der zwei Protagonisten sowie die Nuancierung der »grossen« Geschichte durch die intime Erfahrung des Einzelnen am Beispiel der Familiengeschichte sind auf andere Weise Mittel der Auseinandersetzung mit einer nie wieder ganz herzustellenden Vergangenheit inszeniert.

Die Lektüre dieses Romans ist jedem zu empfehlen, der nach dem Wahren, Guten und Schönen sucht, sich aber gleichzeitig darüber im Klaren ist, dass er sich nur mit subjektiven und fragmentarischen Antworten zufriedengeben muss. Und auf diese Weise wird die Schwerkraft für ein paar Seiten auf einmal überwindbar.

Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft. 208 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2018, ca. 28 Franken.

Zum Verlag