KW37

Drei Ecken, ein Elfer?

Babel

Das «Buchjahr» kommentiert die diesjährige Shortlist des «Schweizer Buchpreises» und kommt ins Staunen nur zögernd hinein.

Von Redaktion Buchjahr
16. September 2018

Wer gewinnt?

Es ist kaum auszudenken, dass man einen renommierten Autor dreimal die mit dem Buchpreis verbundene Lesetour absolvieren lässt, ohne ihn dann auch einmal auszuzeichnen. Der Jury dürfte dies durchaus bewusst gewesen sein, als sie Peter Stamm auf die Shortlist genommen hat. Stamm gastierte bereits beim allerersten Schweizer Buchpreis 2008 mit der Storysammlung «Wir fliegen» auf der Shortlist, 2011 wurde er mit «Seerücken» ein zweites Mal nominiert. Dass es «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» – nach unserem Dafürhalten tatsächlich Stamms narratologisch ambitioniertester Roman und nicht von ungefähr auch bereits mit dem «Solothurner Literaturpreis» bedacht – unter die letzten Fünf schaffen würde, ist qualitativ fraglos zu rechtfertigen. Ebenso vorhersehbar ist freilich, dass damit die alte Fussballregel «Drei Ecken, ein Elfer» in Kraft treten dürfte. Man ahnt: Eine spannende Angelegenheit wird es dieses Jahr nicht werden. Oder doch?

Runner Up

Auch Heinz Helle stand 2014 mit seinem Debüt «Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin» schon einmal auf der Shortlist. Zwei Romane später zeichnet sich eine erfreuliche werkbiographische Entwicklung deutlich ab und «Die Überwindung der Schwerkraft» – ein ganz wunderbarer Geschwister-Text – führt den 40jährigen Helle auf ein neues literarisches Niveau. In einem anderen Jahr wäre dieser Roman sicherlich ein echter Favorit gewesen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen aber wird auch Heinz Helle vermutlich einst auf den besagten Penalty hoffen müssen. Sport geht doch irgendwie anders?

Die weiblichen Avantgarden

Wie auf dieser Seite nicht selten angemerkt, scheint die stilistische Weiterentwicklung der Schweizer Erzählliteratur – nicht zuletzt ihre Erweiterung im Genrespektrum und ihr Vordringen in fantastische Räume – in auffälliger Weise von Autorinnen der 1970er und 1980er Jahrgänge getragen zu werden. Dorothee Elmigers «Einladung an die Waghalsigen» (2010) mag hier eine katalytische Rolle zukommen; der Buchpreis konnte in den vergangenen beiden Jahren mit Michelle Steinbeck, Julia Weber und Martina Clavadetscher immerhin drei Vertreterinnen dieser bemerkenswerten Strömung einem breiteren Publikum vorstellen. In diesem Jahr gesellen sich zu ihnen nun Gianna Molinari, deren Fabrikhallen- und Wolfsgruben-Debüt «Hier ist noch alles möglich» auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises zu finden war (ihr Gespräch mit dem Buchjahr findet sich hier), sowie Julia von Lucadou, die man sicherlich am wenigsten auf dem Zettel hatte. «Die Hochhausspringerin», in deutschen Feuilletons bereits ausgiebig gefeiert, schreibt sich in die Tradition der paranoischen Zukunftserzählungen ein. Auch Clavadetschers «Knochenlieder» mündeten in ihrem zweiten Teil in eine ähnliche, von Surveillancetechnologie durchzogene Welt, die weniger mit der sozialdigitalen Verschwörung eines Dave Eggers (und schon gar nichts mit Orwells «1984»), sondern eher mit den Grossstadtvisionen der frühen 1980er zu tun hatte. Das wird man sich demnächst an dieser Stelle einmal genauer anschauen müssen.

Die Konversionserzählung

Vincenzo Todiscos «Das Eidechsenkind» ist sicherlich die grösste Überraschung auf der Shortlist – ein bemerkenswertes Buch, insofern es die Geschichte vom geheimen Leben eines Kindes italienischer Saisonarbeiter mit einer sprachlichen Konversion verbindet. Erstmals hat Todisco, der in der italienischsprachigen Literatur der Schweiz bereits eine bewährte Grösse ist, einen Roman in deutscher Sprache verfasst. Wir werden uns diesen Text in Kürze hier vornehmen – und uns überlegen dürfen, inwiefern die Schweizer Literatur grundsätzlich gerade das Gedächtnis der Secondos neu zu entdecken beginnt. Ein Paralleltext stünde mit Joseph Incardonas «Permis C» (2016) zur Analyse bereit.

Wie biel ist es?

So bielig wie noch nie. Heinz Helle, Julia von Lucadou und Gianna Molinari haben alle am dortigen Literaturinstitut studiert. Wie dieses Faktum zu bewerten ist, wird zu diskutieren sein. Vor allzu schneller Pauschalisierung sollte man sich gleichwohl hüten, dafür unterscheiden sich die Titel dann doch zu stark voneinander. Der Begriff «Institutsprosa» ist gleichwohl in den letzten Jahren häufiger zu vernehmen. Allein: Wie wäre der zu definieren? Eine spannende Aufgabe. Vive la Literatursoziologie.

Was fehlt?

Natürlich fehlt auf jeder Shortlist immer irgendwer. Und natürlich können hinter jeder Absenz Zufälle wie Kalkül stecken. So lassen sich dann auch die Verschwundenen immer auf die eine oder andere Art zum Sprechen bringen. Arno Camenischs «Der letzte Schnee» wäre sicherlich ein Kandidat für die Liste gewesen, aber kein Muss. Etwas näher hinschauen muss man bei jenen Titeln, die neben Molinaris Debüt auf der Longlist des Deutschen Buchpreises standen: Christina Viraghs fliegende Echokammer «Eine dieser Nächte» und Adolf Muschgs «Heimkehr nach Fukushima». Natürlich ist der Eindruck nicht leicht abzuweisen, dass man es da mit einer – nicht zwingend bewussten – Generationenentscheidung zu tun hat, wobei Viraghs Roman durchaus für ein progressives, experimentelles Erzählen einsteht. Anders sieht es freilich bei Adolf Muschg aus, der dem weitausgreifenden, gelehrten Erzählton immer treu geblieben ist und damit auch ein ebenso treues Publikum bedient. Muschg war allerdings – wie Stamm – schon zweimal auf der Shortlist des Buchpreises zu finden (bei der Erstausrichtung 2008 hatte er sich freilich am Vorabend der Preisverleihung aus dem Wettbewerb verabschiedet) und so wäre es bei einer Nominierung Muschgs in diesem Jahr dann zu einem echten Shootout zwischen Muschg und Stamm gekommen. Hätten wir gerne gesehen. Haben wir aber nicht erwartet.

Den grössten Krater auf dieser Shortlist hinterlässt zweifellos die Nichtberücksichtigung von Thomas Hürlimanns «Heimkehr», dem gewaltigsten Erzählstück dieses Jahres, das auch mit einer literaturbetrieblich grossen Szene einhergeht, nämlich der tatsächlichen Heimkehr eines über ein Jahrzehnt verschollenen Autors. Die einhelligen Reaktionen in der Schweizer Presse – Martin Ebel fragt, ob der Roman «zu gross für den Preis» sei, Roman Bucheli hält Hürlimanns Fehlen gar für einen Fehler, der «die Jury in ihrer Arbeit disqualifiziert» – scheinen durchaus sprechend. Wir indessen wollen in der ausgebliebenen «Heimkehr» nichts Skandalöses entdecken. Für einen Zufall müssen wir Hürlimanns Absenz auf dieser Liste dennoch nicht halten.

Mehr zur Shortlist bei «5/18 Spezial» Ausführlicher über die Shortlist reden wir mit einer illustren Kritikerrunde im Rahmen von «Zürich liest». Am 27.10. um 17.00 Uhr in der Zürcher Kunsthalle ist es soweit – schauen Sie vorbei. Mehr…

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