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Der kosmische Siebenmeter

Jürg Halter © Eva Günter

Man solle bereit sein, seine «Existenz ordentlich in Frage zu stellen». Jürg Halters «Mondkreisläufer» verspricht weniger Erlösung als Auflösung. Aber was hat man da überhaupt vor sich? Wahnsinn, Performance, Managerphilosophie? Zunächst einmal: 80 Seiten voller Fragen.

Von Fabienne Suter
15. Januar 2018

«Sag mir, wer hat uns hierher gebracht?»

«Gut, wo du schon mal hier bist, möchte ich dich gerne zu einem Gedankenexperiment einladen! Nein, das wird keine verkopfte Sache. Das wird mehr so wie ein kurzer Spaziergang nach Hause.» Das Versprechen wird eingelöst: Jürg Halters «Mondkreisläufer» gerät zum Spaziergang mit vielen Fragen, die teilweise gar nicht, teilweise doppelt, und immer wieder widersprüchlich beantwortet werden. So wissen wir nicht, ob die Hauptfigur am Ende – oder am Anfang? – ihrer rätselhaften Reise auf dem Mond landet oder in einer Klinik, ob sie Teil einer neuen Gemeinschaft ist, warum sie «Wiedergeburtstage» feiert, und schliesslich: «wo bleibt die Mutter? Kommt sie heute nicht mehr?»
Neben all diesen Fragen steht hier vor allem eine im Raum: Geht das Kalkül auf, die metaphysische Passage zwischen Freiheit und Unfreiheit, Verdammnis und Erlösung, ursprünglich als Theaterstück konzipiert und als solches am Konzert Theater Bern 2016 auch uraufgeführt, nun als Prosatext umzusetzen? Halters Monolog beleuchtet die tiefschürfenden Fragen von verschiedenen Seiten und beantwortet sie ganz schlicht mit einer Entziehung, einer Auflösung, zuerst des Geistes, dann des Körpers und schlussendlich auf geschickte Weise auch der Sprache der Hauptfigur.

Zur Person

Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern (HKB). 2005 debütierte Halter mit dem Gedichtband «Ich habe die Welt berührt», es folgten weitere Lyrik, Hörbücher, zahlreiche Auftritte, mehrere Auszeichnungen und Aufenthaltsstipendien; 2015 Shortlist für den Bachmannpreis. Zwischen 2005 und 2015 veröffentlichte Halter unter dem Namen «Kutti MC» auch zehn Alben.
Foto © Johannes Puch.

Im Kreis der Mutter

Scheint die Du-Anrede des Erzählers zu Beginn noch verwirrend, gewöhnt man sich mit der Zeit an den Eindruck, vorübergehend einem anderen Gehirn die Führung zu überlassen. Die Reise durch verschiedene Ebenen des Daseins, gefasst als «eine gemalte Landschaft im Museum», ist dabei gespickt von Autoreferenzialität: Was aus der «Geschichte mit dem Mond» noch zu machen sei, welchen Karriereweg sie dem eröffnet, der diese Geschichte besitzt, ob diese Geschichte also in Skandalbücher, Exclusivinterviews und Managerseminare – «Weltschmerz will be over!» – mündet, ob es sich um eine metaphysische Blase, um Gegenwartskunst oder um beides handelt – das alles bleibt Spekulation. Wahrscheinlicher ist es nämlich, dass aus diesem Text gar kein Ich mehr hervorgeht, mit dem noch operiert werden kann. Vom lunaren Weiss wird diese Stimme verschluckt, das Ich kommt sich abhanden und natürlich, natürlich ist das ein Muttermythos. Die Rückkehr zur Mutter, der Eintritt in die Dyade, in eine Sphäre, die noch nicht in Ich und Du gespalten war und in der es keine Sprache gab, überlagert diesen Text. Aus ihr stammen all die Fragen, an deren Beantwortung der Sprecher dieses Textes scheitern muss.
Im steten Schwanken zwischen Regresssehnsucht und kosmischer Wiedergeburtsphantasie lässt sich Halters Text Versuch lesen, das Universum abzubilden, es auf seine Art und Weise gleichzeitig zu schaffen und dabei nicht aus dem Rahmen unserer Unwissenheit herauszufallen. Die literarische Spiegelung unserer Unzulänglichkeit ist thesenfrei: Alle Lösungen sind noch möglich, keine  aber wohl ganz richtig. Das Verhältnis der Erzählstimmen erscheint verschwommen wie die Aura des Mondes, in der die Hauptfigur spazieren geht, verschwindet, um wieder aus ihr hervorzutreten. Diese Rede bewegt sich im Kreis, genauer: in einem Mondkreis, der, so wird das zumindest suggeriert, in einem Klinikaufenthalt endet und somit nicht geschlossen wird.

«Das Universum dehnt sich aus! Es gibt keinen Stillstand bis in die Ewigkeit!»

Die Mondphantasie oszilliert dabei zwischen Astrophysik, Existenzphilosophie («vom Mond aus betrachtet…») und Zeitkritik – das ist nichts Neues in diesem Genre, das immerhin auf eine Geschichte von Lukian über Kepler bis zu Arno Schmidt zurückblicken kann. Erkennbar ist gleichwohl stets Jürg Halters literarische Herkunft aus der Spoken-Word-Bewegung und dementsprechend ist seine Sprache dann auch mehr auf den kurzfristigen Effekt als auf eine bleibende poetische Wirkung angelegt. Nicht absprechen kann man dem «Mondkreisläufer» jedoch, dass er auf engstem Raum sich für das Grösste zu öffnen versucht – und somit einer sich an Effizienz und Oberflächengeschwindigkeit bemessenden Realität etwas Substanzielles entgegenzusetzen vermag. Nicht zum ersten Mal endet ein solcher Widerstand freilich bei der Frage: Was und wer ist denn nun eigentlich verrückt?

Jürg Halter: Mondkreisläufer. 80 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2017. 25 CHF.