KW39

Fremde Leben

donut blum

Donat Blums lange erwartetes Debüt «Opoe» überblendet zwei erfahrungshungrige Biographien. Wo Intensität und Identität keinen gemeinsamen Nenner finden und den Figuren der Halt auf halber Strecke droht, sorgt die Kraft des Erzählens für neuen Schub. Aber trägt sie auch einen ganzen Roman?

Von Christoph Steier
30. September 2018

Rahmen erzählen

Franz Grillparzers Novelle «Der arme Spielmann» von 1848 erzählt die Geschichte des dilettantischen, aber umso hingebungsvoller fiedelnden Geigers Jakob, dessen reines Gemüt ihn um Erbe, Liebe und Leben bringt. Grillparzers Entdeckung der Würde der Bedürftigkeit hat ihm eine Nische im Kanon gesichert. Bedürftig ist indessen nicht allein der Katzenmusiker, sondern vor allem Grillparzers Erzähler: Als bürgerlicher, leicht angejahrter Dichter bedarf er tragikomischer Schicksale und Gestalten –  ohne den armen Spielmann bliebe er selbst einer, ein Künstler ohne Werk. Mit einigem Recht darf man den Titel also selbstironisch auf den Erzähler beziehen, der nur einen Rahmen, aber keine Inhalte zu bieten hat.

Omas Sachen

Nach dem Biedermeier ist vor dem Biedermeier, und so mag diese kleine Episode zu verstehen helfen, wie ein sensibler, stilistisch begabter und bestens vernetzter junger Autor genau 170 Jahre nach Grillparzer von seiner Oma zu erzählen beginnt. Die auf Holländisch «Opoe» heisst und ihr gesamtes Erwachsenenleben im Schweizer Exil verbracht hat, «ohne sich je dafür oder dagegen entschieden zu haben». Fremd im eigenen Leben, fremd vor allem aber ihrem Enkel Donat, der sich, man ahnt es, nach ihrem Ableben auf biographische Spurensuche begibt. Briefe, Kinderfotos, Hollandreisen und Erinnerungen versanden verlässlich. Die vage Skizze einer ausgebremsten Exzentrikerin im Kleinbürgermilieu, belastet «vom Krieg», scheint den Erzähler zunehmend selbst zu ermüden. Die anfangs euphorisch verfolgten, romanerprobten Spuren zum holländischen Widerstand, zu jüdischem Leben, zur Nachkriegsbiederkeit und einem zurückgelassenen Kind, geschäftlichen und ehelichen Schwierigkeiten in der Schweizer Enge verfangen nicht. Die Trauer um ein höchstens halb gelebtes Leben scheint durch, trägt aber keinen Roman. Und, bei aller Empathie für die resolute, aber nie auftrumpfende Opoe, auch keinen halben. Was kein Drama ist, sondern Opoes Dilemma poetologisch durchaus genau spiegelt: Was zum grossen erzählerischen Bogen, gar zur «Oper» sich hätte runden sollen, ist Episode, Stückwerk geblieben.

Zum Autor

Donat Blum hat ein Filmfestival geleitet, als Tellerwäscher und Geschäftsführer gearbeitet und am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut studiert. Er veröffentlicht in zahlreichen Zeitschriften, ist Mitveranstalter der Werkstattgespräche «Teppich» im Literaturhaus Zürich, Initiator der Veranstaltung «Skriptor» an den Solothurner Literaturtagen und Herausgeber der Literaturzeitschrift Glitter.
Foto: © Marvin Zilm

Donats Sachen

Wie aber ist es um die andere Hälfte bestellt? Mit dem Rahmenerzähler Donat, der den Schal der Autofiktionalität nicht allzu tief im Gesicht, sondern eher lose um den Hals geschwungen trägt? Von Grillparzers «Spielmann» war zu lernen, wie das Begehren und Scheitern einer Geschichte die eigentliche Geschichte abgeben kann. Wenn also die Opoe gewidmete Binnenerzählung nicht trägt, trägt dann vielleicht die Geschichte, die Donats Ringen um diese Geschichte erzählt?

Mit Grillparzers Erzähler teilt Blums Figur Donat die Beherrschung der Mittel. Erzählen kann er, konstruieren auch, am Rahmen scheitert die Sache nicht. Dazu der menschenfreundliche Blick aufs Detail, das auch mal für sich selbst stehen bleiben darf. Wo es aber bei Grillparzer um eine Verkehrung der Machtverhältnisse geht – der saturierte Dichter entdeckt im armseligen Dilettanten den reicheren Künstler –, geht es Donat um die Suche nach biographischen Spuren und Spiegeln, die auf die aktuellen Fragen nach seiner Identität antworten helfen. Mit Mitte zwanzig ist dort nämlich fast alles noch offen. So weiss Donat zwar, dass er Männer liebt und lieben wird, ist sich in Sachen Polyamorie, Eifersucht, Samenspende, Familienformen, Fürsorgepflichten, Lebensorten und -aufgaben aber alles andere als sicher. Die Optionen sind da, die Ängste und Verlustrechnungen auch.

Dass die Liebesgeschichten mit Yuri und Joel trotz deutlicher Dringlichkeit ebenso flüchtig und skizzenhaft bleiben wie Donats Reisen und Erinnerungen, passt da zwar ins Bild, überspannt den Reigen des Stückwerk Bleibenden jedoch zunehmend: Anstatt sich nämlich, zumindest vorläufig, zum Episoden- und damit Rätselhaften zu bekennen, arbeitet in den tieferen Schichten des Romans doch einiges darauf hin, Opoes Freiheitsdrang mit seinen Erfolgen und Opfern zur transgenerationalen Matrix von Donats eigener Lage zu verklären. Das grenzt bisweilen an Thomas Manns ästhetischen Mythos der dunklen Künstlermutter und hilft damit kaum zu erklären, wie der Ausgleich von Selbstverpflichtung und Neigung zwischen zwei, drei, vielen begehrenden Menschen unterschiedlichster Prägung im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Donat selbst mag diese Projektion helfen, soziale, psychische, sexuelle und wohl auch ökonomische Strukturen neigt sie indes eher zu verschleiern als zu erhellen.

Formsachen

Über Bande, wie Donat Blums Erstling eben zu spielen fliegt, ist damit zwar abermals unter Beweis gestellt, dass der Mensch als erzählendes Tier ohne die grossen Bögen und starken Überblendungen nur schwer über die Runden kommt: Die Grossform des Romans oder wenigstens die manifeste Form eines gedruckten Buches präsentiert sich für Donat, dessen Schreiben in der «Barke» im Verlauf der Erzählung zur zweiten biographischen Gewissheit neben seiner Homosexualität wird, durchaus als biographische Verheissung: Zu «seinem Buch» kommen scheint das Versprechen zu bergen, zu sich selbst kommen. Ein ähnliches, vom Krisenmodus der Buchbranche und postmoderner Narrativ-Skepsis ganz unbeeindrucktes Zutrauen in die Kraft des Erzählens und die begehrenswerte Subjektposition literarischer Autorschaft prägte kürzlich auch Florian Burkhardts Memoiren «Das Gewicht der Freiheit». Über den hier aufscheinenden Zusammenhang von queerer und materialer Ästhetik unter den soziokökonomischen Bedingungen der Spätmoderne  wäre an anderer Stelle genauer nachzudenken. Als Einstieg dazu empfehlen sich Donat Blums essayistische Überlegungen. Dem begabten, aufmerksamen und kritisch reflektierten literarischen Autor Blum steht indes zu wünschen, sich vom Überdruck der «grossen” Formen nicht gängeln zu lassen. Wo dies gelingt, präsentiert sich bereits das Stückwerk, das «Opoe» über Strecken noch ist und nicht sein mag, als ein Versprechen auf mehr, vielleicht gar als ein erstes Stück Werk.

Donat Blum: Opoe. 176 Seiten. Berlin: Ullstein 2018. ca. 28 CHF.

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