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Eine Poesie im Zeichen der Suche

In seinem neuen Gedichtband «Gemeinsame Sprache» begibt sich Jürg Halter auf die Suche nach dem Gesellschaftlichen in der poetischen Form.

Von Ursina Sommer

Jürg Halter ist genervt. Er sitzt auf der Bühne der Frauenfelder Lyriktage 2019 und diskutiert in einer kleinen Runde von Dichter*innen die Rolle der Lyrik in der Gesellschaft. Die Gesprächsrunde ist kaum eröffnet, da fällt das Vorurteil der weltabgewandten Lyrik, mit dem doch schon Adorno 1950 in seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft ein für alle Mal aufzuräumen gedachte: Gedichte sind «reduzierte Ich-Geschichten ohne politischen Gehalt», wird behauptet. Halter will widersprechen, sucht nach Namen. Fatima Moumouni, Jurczok 1001… Spoken Word, ja. Aber Lyrik, ohne vermittelnden Körper, die Sprache sich selbst überlassen? Ein lyrisches Ich, das sich anmasst, für die Erfahrungen aller zu sprechen? Geht dieser Sprechakt, Adornos «in Objektivität umschlagende Subjektivität», im Zeitalter von Wokeness überhaupt noch?

Diesen – im übrigen frei erfundenen – Fragen widmet sich Halter, der seit 2005 immer wieder Gedichtbände veröffentlich hat, in seinem soeben erschienenen Band Gemeinsame Sprache. In zehn Teilen führt er vor, inwiefern eine gemeinsame Sprache in Zeiten von verhärteten Fronten und politischer Polarisierung zunehmend an Relevanz gewinnt. So ist seine Lyrik nicht zuletzt auch eine selbstreflexive Suche nach einer Sprache für gesellschaftlich-soziale Belange, die eint statt trennt und zum Dialog einlädt. Es ist eine Suche mit offenem Ausgang.

Spiel mit Motivtraditionen

Liest man Gedichte als Gebilde, welche die komplexen Beziehungen eines Individuums und seiner Umwelt nicht bloss inhaltlich abhandeln, sondern in der Sprache selbst verhandeln, lohnt es sich, einen Blick auf das lyrische Ich zu werfen, welches bei Halter zu uns spricht. In Nachtschwimmen widmet sich dieses, «den Kopf im Nacken», der Mondbetrachtung:

Nach einer unbestimmten Zeit erhob ich mich,
den Nacken vom Zummondhochschauen starr,
doch erleichtert und in Auflösung begriffen wie jedes Wort,
das mir auf dem Nachhauseweg durch den Kopf ging,
bis ich träumend im Bett lag – träumend wovon?
Selbstredend vom Mond, der stoisch jedem Gedicht
widersteht.

Der menschliche Blick auf den Mond, der sich in der europäischen Lyriktradition nicht selten als Selbstspiegelung des Menschen in der Natur erweist, erfährt hier eine zentrale Umdeutung. Das Ich reiht sich zwar in die Tradition der lyrischen Naturbearbeitung ein, stösst dabei aber auf einen Mond, der sich gegen seine Überführung ins Gedicht sperrt. Er entzieht sich der Verbalisierung, löst die Worte auf und kann nur geträumt werden. Eine allegorische Ausdeutung des Mondes wird im Gedicht nur als Frage gewagt: «Oder ist der Mond bloss ein Zustand, in dem sich unsere maßlose Selbstüberschätzung manifestiert?» Auch wenn das «Ich» hier Kritik am anthropozentrischen Deutungswahn übt, so geschieht dies nicht mit moralisierend erhobenem Zeigefinger. Vielmehr endet das Gedicht mit einem selbstironischen Zwinkern, indem nämlich die Sprecherinstanz einer vermenschlichenden Darstellung ihrerseits nicht widerstehen kann: «Das Weltall ist eine Diva, die sich niemand ausdenken/ kann». Was hier in Szene gesetzt wird, ist nicht der «richtige» Sprachgebrauch, sondern der spielerische Versuch einer Annäherung daran.

Nächtliche Monologe

Ernster im Ton erscheint daneben Halters Liebeslyrik, die in der Sequenz Als wäre Liebe zu ertragen zusammengefasst ist. Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass gute Gedichte über die Liebe eigentlich nur traurig sein können. Da nämlich, wo an die Stelle der erfüllten Liebe die Sprache tritt, herrscht Melancholie. Davon zeugt das Gedicht mit dem selbstredenden Titel Beinahe ein Liebesgedicht: «Wann immer du mich nachts ansiehst,/ vermisse ich dich so sehr, als wärst du bereits/ verdunkelt – verstummen in Metaphern.»
Sprache wird also da problematisiert, wo sie auf sich selbst zurückgeworfen ist. Einen Gegenentwurf zu diesem Echoraum schafft Halter in Irgendwann am Abgrund die Erlösung in Form der Cuba Bar. Was Kennern des Berner Nachtlebens als Endstation der Kneipentour bekannt ist, wird hier zum lyrischen Begegnungsraum transformiert, in welchem das «Ich» einem «Du» gegenüber sitzt, mit ihm interagiert und dessen Worte und Handlungen wiedergibt: «Drei Uhr morgens in der Cuba Bar erklärst du genervt,/ dass Alkohol dir nichts anhaben könne.» Es entspinnt sich ein dramatischer Monolog zwischen Wodka, Kokain und «kosmische[r] Sinnlosigkeit». Indem dramatische Elemente hinzukommen und die poetische Vergangenheit dem Präsens weicht, entsteht inmitten der nächtlichen Geschäftigkeit eine unerwartete Intimität, in die wir Lesende miteinbezogen werden. Das Gedicht wird damit zum Ort des Zusammentreffens des Unerwarteten, und – wie im Titel schon angelegt – des Widersprüchlichen. Schliesslich ist ein Bekenntnis zur Lyrik als Form immer auch ein Bekenntnis zu den Grautönen, zu Mehrdeutigkeit und Komplexität.

Zum Autor

Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern (HKB). 2005 debütierte Halter mit dem Gedichtband «Ich habe die Welt berührt», es folgten weitere Lyrik, Hörbücher, zahlreiche Auftritte, mehrere Auszeichnungen und Aufenthaltsstipendien; 2015 Shortlist für den Bachmannpreis. Zwischen 2005 und 2015 veröffentlichte Halter unter dem Namen «Kutti MC» auch zehn Alben.
Foto © Johannes Puch.

Predigende Untertöne

In diesem Band gibt es also viel zu entdecken an Form- und Themenvielfalt. Zu viel, ist man versucht zu bemerken. Nicht alle Texte laden zur wiederholten Lektüre ein, was bei einem Band von 152 Seiten auch kaum zu erwarten sein dürfte. So gemahnen einige der Texte an unausgegorene Produkte eines Creative Writing Workshops (Thema: Perspektivenwechsel), wie beispielsweise Monolog einer Pfütze. Enttäuschend sind hingegen diejenigen Texte, wo Halter seinen eigenen Anspruch untergräbt, gesellschaftliche Belange nicht bloss inhaltlich herauszudestillieren, und stattdessen in einen aktivistischen Ton ohne tiefschürfende Botschaften verfällt. In Gute Menschen und Erste Hilfe für Anzugsträger weicht die humorvolle Vielstimmigkeit einer monologischen Eindeutigkeit. Auch Das niemals niemanden verletzende Abc, bestehend aus 24 Gendersternchen, kommt eher platt als originell daher.
Ihre poetische Kraft entfaltet Halters Poesie da, wo sie im Zeichen der Suche steht. Wo er eingängige Bilder findet für die Suche nach Gegenwärtigkeit und Gemeinschaft, nach Liebe und Form, nach einer gemeinsamen Sprache. Diese Haltung ist gesellschaftlich weit gewichtiger und wertvoller als poetische Propaganda. Da, wo Halter diese Haltung bewahrt, sind seine Gedichte lesenswert. Immer und immer wieder.

Jürg Halter: Gemeinsame Sprache. 152 Seiten. Zürich: Dörlemann Verlag 2021, ca. 24 Franken.

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