KW39

«Ich verlange von jeder Form von Kunst eine Intensität.»

ada lovelace clavadetscher

Gut zwei Jahre ist es her, dass Anya Schutzbach die alleinige Geschäftsführung von weissbooks.w übernommen hat. Diesen Sommer ist sie mit dem Verlag nach Zürich übergesiedelt, was die Buchjahr-Redaktion zum Anlass nahm, sie an ihrem neuen Standort im Englischviertel zu besuchen. Ein Gespräch über Programmpolitik, den digitalen Wandel und Frauen im Literaturbetrieb.

Von Redaktion Buchjahr
25. September 2019

Anya, Du hast den Standort des Verlags weissbooks.w dieses Jahr von Frankfurt nach Zürich verlegt und arbeitest nun seit Juli mit dem Unionsverlag wortwörtlich unter einem Dach. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Nach den ersten zehn Jahren, der Aufbauphase, wenn Du so willst, stellte sich anlässlich des Rückzugs meines Co-Gründers Rainer Weiss aus dem operativen Geschäft die zentrale Frage: Wie kann man den Verlag weiterentwickeln?

Strategisch schien mir eine Erweiterung das Wichtigste. Ich wollte den Verlag auf eine breitere Basis stellen, bessere infrastrukturelle Bedingungen schaffen. Meine Idealvorstellung war immer die, dass sich zwei Verlage zusammentun, deren Programme sich ergänzen – nicht konkurrenzieren – und sich die Basisstrukturen teilen. Ausserdem ermöglichen zusammengelegte Prozesse wirtschaftlich vernünftigere Kalkulationen. Also habe ich in den letzten beiden Jahren immer wieder mit Verlagskolleg*innen Optionen ausgelotet. In den Gesprächen mit Lucien Leitess wurde dann irgendwann deutlich, dass ein Zusammengehen mit seinem Verlag ganz gut passen könnte.

Wirst Du mit Deinem Fokus auf deutschsprachige Gegenwartsliteratur und dem Standortwechsel nach Zürich vermehrt Schweizer Literatur verlegen?

Literatur aus der Schweiz wurde bei weissbooks.w eigentlich immer schon verlegt, das haben wir gewissermassen aus der Suhrkamp-Zeit mitgebracht. Rainer Weiss hatte viele Schweizer Autor*innen lektoriert und ein entsprechendes Netzwerk. Auch ich bin mit vielen befreundet oder zumindest bekannt und da ich jetzt in Zürich lebe, kann ich diese Kontakte viel besser pflegen. Das geniesse ich übrigens ganz besonders. Dass daraus aber zwangsläufig verstärkt ein Schweizer Programm entstehen soll, ist nicht primär erklärtes Ziel.

Nebst viel Fronarbeit und Passion – Was braucht es, um als Verlegerin erfolgreich zu sein?

Siegfried Unseld sagte es so: Simultankapazität, Frustrationstoleranz und Panikresistenz. Und ich ergänze: Neugier und Durchlässigkeit. Man muss grenzenlos offen sein, dauerneugierig und wahrnehmungsfähig bis zur Schmerzgrenze.  Ob das aber schon eine erfolgreiche Verlegerin ausmacht? Dafür kann es kein Rezept geben, man kann die Verlegerei in dem Sinne auch nicht erlernen oder studieren. Natürlich gibt es Routinen, die kann man mehr oder weniger gut beherrschen. Aber es gibt eben auch die Faktoren Glück und Zufall. Oder das, was Napoleon Fortune nannte. Und sicher braucht es auch ein kaufmännisches Geschick.

Und zum Thema Fronarbeit: Das Verlegen von Büchern ist in erster Linie und immer ein Dienst an den Autor*innen. Ein Dauereinsatz! Darum ja, Büchermachen ist anstrengend, aber nichts, absolut nichts daran ist langweilig.

Aber frustrierend? Die Krise der Verlagsbranche ist ja seit einem Jahrzehnt ein Dauerbrenner in den Medien.

Da ist es in der Verlagsbranche wie überall. Krisen gibt es auch im Finanzmarkt und vermutlich auch beim Einwohnermeldeamt. Die Frage ist doch, welche Art von Frustrationen sind zermürbend? Die, die sich aus vorgegebenen administrativen Strukturen auf mich übertragen und lähmen, oder jene, die Energien freisetzen?

Und offen gestanden habe ich keine große Lust, über die Krise zu sprechen. Ich kann nur sagen ja, es ist nicht leicht und die Rubel rollen lange nicht mehr so, wie sie das in den Achtziger- oder Neunzigerjahren taten. Jede Branche durchläuft Krisenphasen, es ist ein Auf und Ab, wir befinden uns in einem absolut natürlichen Prozess, der gerade mit Schmackes nach unten durchschwingt. Was aber eine ordentliche Sinuskurve ist, das wird auch wieder nach oben ziehen. Wir müssen einfach weitermachen. Die knallharten Rationalisten sprechen im Rahmen dieser Krisendebatte von einer ohnehin notwendigen Marktbereinigung – das ist meines Erachtens aber kein hilfreicher Denkansatz für diejenigen, die tätig bleiben wollen.

Gut, wir wissen aus Studien, dass die Zahl der Leser*innen / Buchkäufer*innen in den letzten zwei Jahren um 6,4 Mio. gesunken ist. Aber das macht mich nicht verrückt, ich mache trotzdem weiter Bücher, weil ich sie für lebensnotwendig halte. Ohne Bücher ist ein Leben nicht vorstellbar.

Du sprichst von einer Sinuskurve. Siehst Du produktive Effekte dieser sogenannten Krise und Anzeichen eines Umschwungs?

Der positivste Effekt ist, dass wir wachgerüttelt worden sind. Natürlich gab es immer Rufer in der Wüste: der Strukturwandel unseres Markts, die Digitalisierung, die zwar nicht das Buch bedroht, aber starke Auswirkungen auf unsere Wahrnehmungs- und Kommunikationsmechanismen genommen hat.

Was aber wirklich interessant ist und nicht «behoben» werden kann, ist doch der damit einhergehende grundsätzliche gesellschaftliche Wandel. Dabei stellt sich, wie immer und vor hundert Jahren schon, nichts anderes als die Frage: WAS wollen wir lesen? Und heute eben auch: WIE wollen wir lesen? Wir befinden uns gegenwärtig in einem beschleunigteren Wandlungsprozess, als wir es bislang kannten. Diese Dynamik können wir verfluchen – oder uns ihr stellen und mitmachen.

Und wie?

Wenn ich einzelne Beispiele nenne, wird das der Frage nicht gerecht, jedes einzelne klänge banal. Ich sehe uns einfach als eines von unzähligen Rädchen einer grossen, umfassenden Veränderung, die sich aus entsprechend unzähligen Mikroprozessen zusammensetzt. Den Kolleg*innen meiner Generation ist das möglicherweise bewusster als jenen, die erst halb so alt sind. Wir kommen aus dem letzten Jahrtausend und aus somit aus der analogen Welt, die es mit anderen Geschwindigkeiten zu tun hatte. Heute arbeiten auch wir vornehmlich in einer stark digitalen, sind also im alten wie im jetzigen Jahrhundert zuhause. Ein Vorteil!

Eines dieser Mikro-Beispiele: Ich verfolge seit einer Weile die ganz eigene Kommunikation über Bücher auf Instagram; andere Hierarchien, andere Werte als im letzten Jahrhundert. Es ist vielleicht nur eine Petitesse, aber vor fünf Jahren hatte Instagram in der Kommunikation rund ums Buch noch keine Relevanz – so viel zum Stichwort Dynamik.

Oder die Geschwindigkeit, mit der ein «learning» aus dem Erfolg von Serien Früchte auch in den Verlagen trägt: Das neue Zauberwort lautet ja gerade Storytelling. Auch, wenn Bücher  noch nie etwas anderes getan haben als genau das! Aber indem wir davon lernen wollen (oder glauben lernen zu müssen), wie Serien aufgebaut sind, wie Unterhaltung neu definiert wird, wird das den Literaturbegriff sicher verändern – wenn auch nicht in seinem Grundsatz.

Was ist denn Deiner Meinung nach der Literaturbegriff in seinem Grundsatz?

Es zementiert sogar diesen Grundsatz, wie gesagt: Es geht ums Geschichtenerzählen. Das Geschichtenerzählen ist so alt wie die Menschheit. Das ist der Grund, warum es immer Bücher – wie auch immer sie aussehen – geben wird. Alles Erzählte ist letztlich ein Buch.

Das sogenannte «Storytelling» ist zu einem populären Begriff für eine umfassende Kulturpraxis arriviert. Inwiefern hebt sich Dein Literaturbegriff davon ab?

Meine Vorlieben, mein Blick auf Texte ist ein klassischer. Was ich von Literatur erwarte und mich als Verlegerin interessiert ist, dass Literatur über das reine Storytelling hinausgeht und Kunst wird. Ich will Sprachfertigkeit sehen. Will einem Text eine Geschichte ablesen und gleichzeitig fasziniert sein von einem gekonnten oder eigenwilligen oder nie dagewesenen Umgang mit Sprache, von einer genialen Komposition, von einem Ton, der sich abhebt. Hier mache ich einen Unterschied zwischen reiner Unterhaltungsliteratur, die gut ist und klug, die durch mich hindurchrauscht und mich aufs Beste unterhält und einer Literatur, die mich fordert, fasziniert, weil sie grösser und klüger ist als ich selbst.

Kürzlich las ich ein Interview mit Slavoj Žižek, irgendwie ging es da auch um Pornographie. Sinngemäß sagte er, für ihn sei es letztlich ein grösserer Lustgewinn, eine Passage von Hegel zu lesen und sie dann auch zu verstehen, als dabei zuschauen, wie zwei Menschen vögeln. Und das kann ich gut nachvollziehen! (Auch wenn ich es mit Hegel noch nicht versucht habe.)

Zwischen diesen beiden Polen, wo würdest Du das Feld abstecken, in dem weissbooks.w sich verortet?

Anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur. Texte, die man früher Feuilletonliteratur genannt hätte. Aber auch das Feuilleton von heute ist ein Spiegel des gesellschaftlichen Wandels und unsere Bücher werden heute eher von Leser*innen entdeckt und besprochen, in Blogs und den social-media-Kanälen, als von der alten Garde der Literaturkritik.

weissbooks.w hatte bei seiner Lancierung vor elf Jahren mit dem Auftritt der ersten Bücher in rein typografischen, schwarzweissen Schutzumschlägen irgendwie seine frühkindliche Prägung erhalten: Wir wurden wahrgenommen als sehr highbrow, als Verlag für «intellektuelle» Literatur. Dabei bringen wir durchaus auch leichte, zugängliche Texte, aber auch die können einen Anspruch haben auf Qualität und Intensität. Wir wollten und wollen immer noch genau das: eher edgy sein als weichgespült. Wollen herausfordern und Angebote für den eben erwähnten spezifischen Lustgewinn machen. Das ist meine Programmpolitik.

Woher kommt dieser Impuls, diese Ausrichtung?

Ich verlange von jeder Kunstform eine Intensität. Mit Wohlfühl-Programmen in der Kulturindustrie kann ich nichts anfangen. Fürs benessere sind andere Branchen zuständig. Ich möchte Bücher machen, denen eine spezifischen Kraft innewohnt, die so etwas haben wie einen atomaren Kern.

Aber funktioniert gerade unsere zeitgenössische Konsum- und Massenkultur nicht über die Inszenierung von Spektakeln und die ökonomische Ausbeutung starker Emotionen wie Empörung?

Ich spreche nicht von dem durchsichtigen Erfolgsmodell, starke, einfache Emotionen zu triggern oder in der Masse zu inszenieren. Lesen ist das Gegenteil einer rauschhaften Massenerfahrung. Jede*r liest sein Buch. Lesen ist ein einsames Vergnügen, die reine Monogamie. Außerdem besitzen Texte die Fähigkeit, etwas viel Tieferliegendes freizusetzen als Allgemeinplätze, auf die man / die Menschen in der Masse reagieren wie Pawlowsche Hunde. Es sind subtilere, eigenwilligere Reize als allgemeingültige, in einem public consense verankerte Emotionen.

„Subtil“ ist natürlich ein sehr schwammiger Begriff, aber ich kann vielleicht Beispiele geben: Das Intensitäts-Gen, die kleine Prise Droge, die ich meine, findet sich für mich in Inoue Yasushis Jagdgewehr, in Daniel Kehlmanns Till, in den Büchern von Christoph Höhtker – in jeweils geheimen Mischungen und Dosierungen.

Du hast einmal die Verlagsbranche im ehemaligen Suhrkamp-Umfeld als männlich charakterisiert und bemerkt, dass Du dich mit weissbooks.w davon absetzen möchtest. Von was für einer Männlichkeit sprechen wir hier?

Das ist eine Generationenfrage. Ich bin in dem „alten Deutschland“ aufgewachsen und habe mich, offen gestanden, nie zurückgesetzt gefühlt. Nicht als Mädchen, nicht während des Studiums, nicht als Frau in meinen ersten Jahren der beruflichen Selbständigkeit. Ich hatte nie das Gefühl einer Zweitrangigkeit, weswegen sich in mir auch nie ein Aufbegehren geregt hat. Ich konnte ohne Weiteres einen Patriarchen wie Siegfried Unseld respektieren; ich habe mich vielleicht manches Mal gewundert, die Regentschaft aber anerkannt. Ich konnte diesem Anerkennen keinerlei Nachteile ablesen. Ich hatte meine Chancen.

Mit dem vielleicht etwas überscharfen Bewusstsein unserer Tage ist ein völlig neuer Blick auf diese männlichen Institutionen möglich, aber die Führungsetagen im Verlagswesen sind nach wie vor männerdominiert. Ich beobachte allerdings, dass da jetzt doch ein Wandel einsetzt.

Feministisches Engagement – wie politisches überhaupt – ist aber nicht zwangsläufig an ein persönliches Gefühl der Betroffenheit gebunden, sondern funktioniert massgeblich über Solidarität. Gibt es in der Verlagsbranche Frauen*netzwerke?

Es gibt die Bücherfrauen, aber meines Wissens keine weiteren relevanten Netzwerke.  Frauen*netzwerke sind sicher hilfreich und wichtig und bin der festen Überzeugung, dass wir viel mehr weibliche Handlungsmuster in die Managementebenen hineintragen müssen. In dem Zusammenhang ist es essentiell, vielen jungen Frauen die Möglichkeit zu geben, sich über Netzwerke zu solidarisieren und sich gegenseitig Türen zu öffnen. Das ist in der Verlagsbranche noch ausbaufähig.

Spielt Gender denn eine Rolle bei der Entscheidung, welche Bücher und Autor*innen Du verlegst?

Das ist mir zu formalistisch. Für mich zählt in erster Linie die Sache, sprich: der Text, da sind mir Identitätskategorien wie Geschlecht oder Nationalität egal. Mir geht es nicht darum, vermehrt Autorinnen zu publizieren. In Interviews hört man mich manchmal etwas sagen von „weiblicheren Stoffen“, aber damit meine ich Texte, die eine Durchlässigkeit erfordern, die ihnen möglicherweise eher von Leserinnen entgegengebracht werden kann. Provokanter gesagt: Männer lesen anders. Eigentlich würde ich gerne mal eine Studie zu dieser These lesen!

Und wie lesen Männer?

Wenn ich das so genau wüsste! Aber wenn ich Männer frage, was sie denn so lesen, höre ich oft: historische Romane, Sachbücher, Biografien. Wenn ich sie nach ihrem Lese-Gefühl befrage, nach der Intensität des Leseerlebnisses frage, besteht die Antwort meist aus einer Inhaltsangabe; kaum einer berichtet davon, was die Lektüre bei ihm ausgelöst hat. Frauen beantworten diese Fragen anders. Ich vermute, dass es da doch einen genderspezifischen Unterschied gibt. Wenn ich also sage, ich möchte „weiblichere“ Stoffe machen, meine ich damit Bücher, die etwas auslösen, was Leser*innen jenseits der geschilderten Fakten bewegt.

Setzt Du diesen Akzent auch mit dem Ziel, damit die Lesegewohnheiten der Menschen zu verändern?

Das Buch wie das Theater eine moralische Anstalt? Nein. Ich will niemanden verändern, oder seine Lesegewohnheiten! Aber ich möchte das Angebot machen von Leseerfahrungen, die, im besten Falle, nach mehr verlangen. Solche Bücher will ich machen, für Menschen, die Bücher suchen, die jenseits des Storytellings von spannenden Fakten, jenseits von guter Unterhaltung im Lesen noch etwas Anderes suchen: Ein starkes Erlebnis oder Empfinden im Innersten, im Stillen.

Das Gespräch führte Shantala Hummler.