KW36

Kerzen und Sand

ada lovelace clavadetscher

In ihrem Debüt erkundet Katja Schönherr eine Liebesgeschichte, die nie anfing, aber auch nicht aufhören wollte. Hinter epischer Breite verbirgt sie einen Abgrund, der sich nie öffnet, aber beharrlich weitet.

Von Christoph Steier
7. September 2019

Arthur mag keinen Sand. Von den Bergen an die Küste versetzt, hat der spröde Referendar damit einen schweren Stand: In jede Ritze dringen die kleinsten Überreste früherer Gletscher, alles Abschütteln, Abstreifen, Wegsaugen bleibt ein Windmühlenkampf. Der ein Leben lang andauern wird, denn Arthur bleibt in der ungeliebten Gegend sprichwörtlich hängen. Der Grund dafür ist seine Schülerin Marta. Die unentschlossene, aus kleinen Verhältnissen stammende Aussenseiterin landet nach einer Reihe unglücklicher Umstände als Auszubildende in einem Kaufhaus und schliesslich in Arthurs Wohnung. Ihre alkoholkranke Mutter hat sie hinausgeworfen, Arthur nimmt die gerade volljährig Gewordene eher widerwillig auf. Jenseits kurzer sexueller Kontakte haben die beiden keine Verbindung, und doch haftet sich Marta an den mürrischen Einzelgänger. Als sie die Pille heimlich absetzt und schwanger wird, schreckt sie auch vor Erpressung nicht zurück, um den knapp zehn Jahre älteren Lehrer zum Bleiben zu nötigen. Aus der erzwungenen Gemeinschaft wird ein Leben, das sich weitgehend hinter geschlossenen Gardinen abspielt.

Zwei Zeiten, ein Elend

Von diesen teils Jahrzehnte zurückliegenden Verwicklungen, die Martas dunkle Seite bereits andeuten, erfahren die Leser*innen nur häppchenweise im Verlauf des Buches. Die Erzählgegenwart ist den Tagen gewidmet, die Marta mit dem toten Arthur in ihrer Wohnung verbringt. Ein verstörendes Kammerspiel, das von den weit ausgreifenden Rückblenden nichts von seinem klaustrophobischen Charakter verliert. Sondern im Gegenteil immer enger, bedrückender wird. Wie der Sand, unter dem Marta den Verstorbenen weder begraben noch auch nur annähernd bedecken kann, wird die Erzähloberfläche brüchig: Erscheint Marta zunächst als um ihr Leben betrogenes Mauerblümchen, dem nach dem Tod des verhassten Pedanten nun vielleicht noch ein zweiter Frühling winkt, wandelt sich die Perspektive zusehends und Martas Anteil, vielleicht auch Schuld am gemeinsamen Verderben wird kenntlich.

Zur Person

Katja Schönherr, geboren 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie studierte Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman ›Marta und Arthur‹ wurde 2019 in Deutschland für den «Klaus-Michael-Kühne-Preis» als bestes Romandebüt und in Frankreich für den «Prix Les Inrockuptibles» als bestes ausländisches Buch nominiert. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.
Foto: © Suzanne Schwiertz

Kleine Lichter

Der Schatten dieses Verdachts fällt auf zwei Leben, aber nur einen Tod. Hier hätte es der eingestreuten Zeitungsartikel über unentdeckte Morde, der aufdringlichen Nachbarin, der Fernsehkrimis und des zornigen Sohnes vielleicht gar nicht in der gebotenen Breite bedurft, um Marta ins Zwielicht zu rücken. Was Schönherr in beharrlicher Psychomikroskopie überzeugend zeigt, droht in diesen Zugeständnissen an eine gängige Romanhandlung gelegentlich ausgeplaudert zu werden. Demgegenüber weist etwa die meisterhaft gebaute Szene, als Arthur Marta zu ihrem 59. Geburtstag eine leere Karte und eben jenen Orchideentopf «schenkt», in dem sie einst ihre Pillen entsorgt hatte, Katja Schönherr als psychologisch kundige, subtile Erzählerin aus, die kleinste dramaturgische Wendungen ebenso beherrscht wie den grossen kompositorischen Bogen. Denn am nächsten Morgen ist Arthur tot, und schon kurz darauf findet sich besagter Zeitungsartikel in Martas Briefkasten. Sein Titel lautet: «Wenn auf den Gräbern all derer, die in Wahrheit ermordet wurden, nachts Kerzen brennen würden, wären unsere Friedhöfe hell erleuchtet». Dass es, durchaus im Sinne Ingeborg Bachmanns, Sache der Literatur sein könnte, auch den – meist still, hinter Gardinen verborgenen – lebend Sterbenden ihre Kerze zu stiften, begründet das erzählerische Ethos von Schönherrs Debüt. Das Ergebnis ist eine teils quälend zu lesende, fast durchgängig streng gearbeitete Studie in menschlicher Duldungsstarre, die sich den gegenwärtigen Gefälligkeitsstandards wohltuend verweigert.

Katja Schönherr: Marta und Arthur. 231 Seiten. Hamburg: Arche 2019, ca. 29 Franken.

Zum Verlag

Weitere Bücher