KW02

Tatsächlich noch zu wenig

Das Stadt-Land-Dilemma, Generationenkonflikte und Familienkrisen – in ihrem neuen Roman «Alles ist noch zu wenig» beleuchtet Katja Schönherr aktuelle Themen im Zeichen des literarischen Realismus. Nach dem Paar-Drama im Debüt «Martha und Arthur» steht im zweiten Buch der schweizerisch-deutschen Autorin und Literaturkritikerin eine konfliktreichen Familiengeschichte im Zentrum.

Von Simona Savic
9. Januar 2023

Als Setting für ihren zweiten Roman hat Katja Schönherr eine ostdeutsche Provinz namens Munßig gewählt. Als die über 80-jährige Inge nach einem Sturz nämlich nicht mehr gut beweglich ist, muss ihr Sohn Carsten aus der Grossstadt für drei Wochen als Inges Unterstützung in sein Heimatdorf fahren. Da zu dieser Zeit gerade Schulferien sind, nimmt er seine 15-jährige Tochter Lissa mit. Die drei Generationen sind somit gezwungen, für drei Wochen gemeinsam in Inges Haus zu leben.

Zur Autorin

Katja Schönherr, geboren 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie studierte Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman ›Marta und Arthur‹ wurde 2019 in Deutschland für den «Klaus-Michael-Kühne-Preis» als bestes Romandebüt und in Frankreich für den «Prix Les Inrockuptibles» als bestes ausländisches Buch nominiert. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.
Foto: © Suzanne Schwiertz

Dass das nicht sonderlich gut gehen kann, ist schon von vorhinein abzusehen: Die schmollende und unzufriedene Inge hat sich schon längstens mit ihrem Sohn Carsten auseinandergelebt. Seine Mühen und Intentionen reichen der alten Frau nicht aus, denn sie wünscht sich mehr Hilfe und Mitgefühl von ihrem Sohn. Wirklich ausdrücken kann Inge ihre Bedürfnisse jedoch nicht. In ihrer Kindheit und Jugend war es nämlich nicht erwünscht, über Gefühlslagen zu sprechen – deshalb spielt Inge stattdessen lieber die Beleidigte. Statt auf die Konflikte mit seiner Mutter einzugehen, macht sich Carsten lieber aus dem Staub. Er täuscht vor, noch arbeiten zu müssen und lässt nicht nur seine Mutter mit ihren Problemen alleine, sondern auch seine Tochter.

Wie man nicht miteinander spricht
Lissa fühlt sich mit ihren Ansichten und Wünschen ebenfalls alleingelassen. Als Teenie setzt sie sich für eine bessere und gerechtere Welt ein, findet von Grossmutter und Vater jedoch kein Gehör. So leben die drei, geprägt von ihren Erwartungen, Wünschen und Bedürfnissen, gemeinsam in Inges Haus aneinander vorbei. Dieses Vorbeileben zieht sich durch die gesamten 315 Seiten des Romans hindurch. Die drei Protagonisten widmen sich lieber gegenseitigen Schuldzuweisungen und fehlender Kommunikation statt ehrlicher, provokationsfreier Diskussion. Dass den drei Figuren nicht einmal die drei Wochen intensiver Zeit miteinander helfen, deutet Katja Schönherr bereits im Titel an. Der Romantitel beschreibt den beständigen Kummer der Familie bestens. Trotz der drei Wochen und der Verletzung Inges gelingt es der Familie bis zum Schluss nicht, eine gemeinsame Sprache zu finden.

Erzählte Stasis
Dass es den Figuren nicht gelingt, aufeinander einzugehen, liegt letztlich an der nicht vorhandenen Entwicklung. Das Setting wäre ideal konzipiert, um Dramen, Gefühlsausbrüche und Versöhnungen einzubauen. Stattdessen bleiben alle drei Figuren an Ort und Stelle stehen und durchleben keinerlei Entwicklung. Inge bleibt knausrig und schmollend alleine in ihrem Haus zurück, Carsten verlässt seine Mutter genauso kühl, wie er gekommen ist, und Lissa beschäftigt sich weiterhin nur mit ihren Weltansichten. Nach den 315 Seiten erwartungsvoller Lesehaltung bleibt man schliesslich mit denselben Konflikten zurück, die lediglich angesprochen, aber nicht tiefer behandelt wurden.
Wie schon in ihrem ersten Roman verweigert Katja Schönherr romantypische Verwicklungen, sondern hält den erzählerischen Blick stoisch auf Figuren gerichtet, die in ihrer eigenen Ausweglosigkeit gefangen scheinen. Das Ergebnis ist eine fast lähmende Lektüre, auf die man sich einlassen muss und die die Leser:innen mit der Frage entlässt, ob das tatsächlich etwas zu wenig sein könnte.

Katja Schönherr: Alles ist noch zu wenig. 320 Seiten. Zürich: Arche Verlag, ca. 33 Franken.

Zum Verlag

Weitere Bücher