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Queere Nachtstücke aus der Zürcher Innenstadt

Die Erzählungen aus Darja Kellers «Sihl City» widmen sich der Alltäglichkeit des lesbischen Begehrens. Dabei wird die Nacht zum Tag und der Tag zum Traum.

Von Dominik Fischer
3. Januar 2023

Sieben Erzählungen legt Darja Keller in ihrem Debut Sihl City vor, szenenhaft schildert jede von ihnen intime Abende, Sex und Bettgespräche der Erzählerin mit ihren wechselnden Liebhaberinnen. Da sind Thalia, Sarina und Bigna, da sind Figuren, die namenlos bleiben und da ist ein ganzes Register von Mitbewohnerinnen, Bekannten und vergangenen oder zukünftigen Geliebten wie Emilia, Anna, Lou und Mathilda. Sie alle bewohnen Kellers Zürich, die titelgebende Sihl City.

Nachts wird geliebt, tagsüber geträumt

Ihre Figuren schlafen miteinander, und schlafen auch gelegentlich miteinander ein, doch sie wachen kaum gemeinsam auf. Den Vorzügen von «Allein schlafen» ist gar ein ganzes Kapitel gewidmet. Den Tag danach gibt es nicht, Menschen haben Arzttermine oder schleichen sich ohne Begründung aus der Tür. Mal verblasst die Erinnerung, sobald die Erzählerin wieder auf der Strasse ist, mal kreisen die Gedanken wie gefesselt um diese eine letzte Nacht.

Nachts wird geliebt, tagsüber wird zurückgeträumt und vorausgeträumt. Immer wieder heisst es in Kellers Erzählungen: «Ich stelle mir vor», oder: «stell du dir vor». Beinahe nahtlos gehen Handlung und Imagination ineinander über. Die Erzählungen sind dabei so träumerisch, weil sie sich alle in der verlängerten Nacht ereignen, die sich in Kellers Erzählungen vom frühen Abend bis kurz vor Sonnenaufgang ausdehnt – jede von ihnen ein queeres Nachtstück.

Zur Autorin

Darja Keller, geb. 1994 in Würenlos (AG), studierte an der Universität Zürich Literaturwissenschaften und Kulturanalyse. Ihre Essays und Kurzgeschichten erscheinen in verschiedenen Magazinen und Literaturzeitschriften. Sie lebt in Zürich und legte 2022 mit «Sihl City» ihre erste eigenständige Publikation vor.
Foto: © Carl Philipp Roth

Kellers Figuren können sich trennen und direkt danach wieder gemeinsam im Bett liegen, so wie in der Erzählung Thalia. Und wenn Thalia die Erzählerin fragt, ob sie ihr ein Buch vorlesen möchte – natürlich für einen Franken im Brocki gekauft –, dann ist das zunächst unglaublich romantisch, doch bereits nach drei Seiten siegt das nächste Gefühl: Langeweile. Das Buch gefällt der Erzählerin nicht; beinahe gibt es Streit. Die Figuren filtern nicht zwischen ihrem Herzen und ihren Worten. Alles ist unmittelbar, direkt und so real wie die Zürcher Schauplätze der Kreise 2 bis 5, an die Keller uns führt.

Das Begehren sucht die Zuflucht der Nacht

Die Orte, die Kellers Figuren in Zürich besuchen, stecken dabei einen sicheren und beinahe utopischen queeren Mikrokosmos ab. Ist der queere Kreis 4 die Gegenwart der Erzählerin, so ist die heterosexuell codierte Agglo ihre Vergangenheit. Die Agglo ist der Ort, wo die Erzählerin als Mädchen von erwachsenen Männern belästigt wurde und wo sie schon mit 16 lernen musste, dass männliches Begehren «eine Ressource ist, auf die ich nicht verzichten kann». Eine Macht, mitunter eine Gewalt.

Im Kreis 4 hingegen wird sie nur einmal in den frühen Morgenstunden spürbar, diese unausweichliche männliche «Ressource»: «Wir schauen uns lange an und küssen uns nochmal, dann kommt eine Gruppe Männer vorbei und wir hören auf», heisst es in der titelgebenden Erzählung Sihl City. Nur angedeutet ist die Gefahr, sein nicht-normatives Begehren auf den Zürcher Strassen zu leben. Doch womöglich erklärt diese Gefahr, wieso Kellers eigentlich so romantisch-sorglose Erzählungen stets den Schutz der Nacht und der Studi-WG’s suchen, wieso die Nacht dem Begehren gehört und der Tag der träumerischen Imagination.

In ihrer topologischen Bedeutungsstruktur – die hetereosexuelle Agglomeration als Vergangenheit, das queere Zürich als Gegenwart und Zukunft – reiht sich Kellers Sihl City gleich mit zwei queeren Schweizer Texten ein, die unlängst grosse Erfolge feiern konnten: In X Schneebergers Neon Pink & Blue – 2021 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet – flüchtet sich die queere Erzählfigur aus der Aargauer Agglo in das prekäre Nachtleben Zürichs. Und in Kim de L’Horizons Blutbuch – unlängst mit dem deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet – flieht die nonbinäre Erzählfigur aus der schäbigen Agglo nach Zürich, um sich von dort aus mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Auch für Kellers Ich-Erzählerin ist die Stadt der Ort, wo ihre queere Sexualität sichtbar und erzählbar werden kann.

Queere Liebe kann so alltäglich sein

Kein Wunder also, dass Sihl City zugleich eine Liebeserklärung an Zürich und ans Verliebtsein ist. Dabei sind es eigentlich «ganz normale» Liebesgeschichten, die Keller schreibt. Queere Liebe in der Schweizer Grossstadt als selbstverständlich sichtbar zu machen, ist Kellers grosse Leistung. Das «ganz Normale» ihrer Verliebtheitsgeschichten spiegelt sich in Kellers Duktus wider, in den klaren und schnörkellosen Sätzen und in ihrem dokumentarischen, fast tagebuchartigen Stil. Zeigt Schneebergers rastlose Collage-Poetik den Schmerz und den Rausch queerer Existenz, so zeigt Kellers schlichter Stil diese in ihrer Alltäglichkeit und unaufdringlichen Klarheit. Darja Keller legt ein gekonntes Debüt mit einer stilistischen und erzählerischen Konsequenz vor, wie man es selten liest – und unbedingt mehr lesen will.

Darja Keller: Sihl City. 72 Seiten. Hannover: re:sonar verlag 2022, ca. 10 Franken.

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