Die Stille der Beats

Frech, tabulos und herzlich ehrlich ist Flurin Jeckers neues Buch Ultraviolett. Genauso wie sein neuster Roman präsentiert sich der gebürtige Berner auch an den Solothurner Literaturtagen. Im Kino im Uferbau liest Jecker aus Ultraviolett vor und gibt Einblicke in die Hintergründe des Protagonisten Held.

Flurin Jecker liebt Klischees. Zum Beispiel, dass die Frauen in seinen Geschichten die Retterinnen der Helden sind. Und sein Held braucht definitiv eine Retterin. Held, so heisst Jeckers Held, floh vor seinen persönlichen Geistern ins Exil nach Berlin. Er musste raus aus Bern, raus aus der erdrückenden kleinen Stadt, deren Stille nicht seine Stille war. Seine eigene Stille findet er im dröhnenden Berliner Nachtleben. Dort, wo andere nichts als lautes Feiern wahrnehmen, lernt Held für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Und genau das macht ihn zum Helden. 

Um die Verantwortung für sich übernehmen zu können, muss Held erst seine Geister loswerden. Das ist der Prozess, der im Roman stattfindet. Die Geister, die Held hat, haben wir aber alle in uns: Es sind Urängste vor dem Leben, die uns daran hindern, erwachsen zu werden. Für Jecker ist Techno ein Mittel, sich selbst zuzuhören und schliesslich das mit dem Erwachsenwerden vielleicht doch noch hinzubekommen. Damit das Erwachsenwerden Held gelingt, schreibt er einige Briefe, darunter auch an sich selbst. Die unterschiedlichen Adressaten spielen dabei eine wichtige Rolle, wie Jecker betont. Für ihn bildet der Schreibprozess eine Möglichkeit, sich von anderen unabhängig zu machen und sich von ihnen loszulösen. So beginnt Held Briefe an seinen verschollenen Freund zu schreiben und schreibt den letzten Brief an sich selbst. Ultraviolett hat deshalb, wie schon Jeckers Debütroman Lanz, einen schreibenden Protagonisten. Sein zweites Werk ist ein Briefroman, der nahe am Mündlichen geschrieben ist. Durch diesen markanten Stil schafft es Jecker, seine eigene Sprache, das Berndeutsche, in Ultraviolett zum Ausdruck zu bringen.

Ob es Held schliesslich wirklich gelingt, ein Held zu werden, ist Ansichtssache. Jecker versteht unter einem Happy End nämlich einen Prozess, der nicht nur Positives beinhaltet. Es geht ihm um die Erkenntnis, die einen weiterbringt. Weitergekommen ist Held zweifellos.

Von Lara Buchli und Simona Savic

Retrouver les littératures qui vivent

Sept heures trente quatre ce matin sur le quai de Fribourg, gourdes, sac à dos – et programmes jaunes et roses qui clignotent sous un bras. Journées littéraires de Soleure, l’édition 44, presque comme un « dites 33 » de la littérature, pour vérifier qu’elle est là, qu’elle pulse, prendre des nouvelles de sa santé. L’effervescence interne des courses d’école ou presque, en tout cas quelque chose de léger dans l’art et la manière, déjà les conversations courent sur les livres qui passent de main en main, « et toi tu vas écouter quoi aujourd’hui, tu vas voir quoi ? ». Pendant trois jours le texte ça s’écoute et ça se voit, ça se rencontre, ça s’expérimente.

Ce qui frappe, bien sûr, c’est le soleil éclatant et le vert de l’Aar quand on débarque dans la ville baroque des vieux ambassadeurs de France, quelques pas à peine, on traverse le pont et déjà des mouvements qui s’affairent autour des bâtiments qui longent la rivière et qui accueillent pour la plupart les manifestations, lectures, discussions, spectacles, performances littéraires des prochaines heures. Un œil jeté rapidement sur les livres en vitrine – se retenir déjà, on ne pourra pas tout lire, pas tout acheter – des salutations enjouées et quelques mains qui se serrent, poignes retrouvées, on se dit bonjour par-delà les deux années vécues.

Actrices acteurs du littéraire, pas tellement comme une famille, plutôt des affinités électives et des échos choisis, rêvés à nouveau sur le fond de cette coulisse magnifique, on se réunit non pas pour faire re-démarrer quelque chose qui n’a jamais cessé – les mots ont vécu et enflé ces deux dernières années – mais pour se rappeler le plaisir et la plus-value de vivre ensemble la création, partager les ajouts à la réalité, désirants et rageurs. La littérature éclate de toutes ses formes, la joie de batifoler avec elle dans et hors du livre : c’est parti pour trois jours à Solothurn.

Brücken bauen

Erinnerungen verbinden Menschen. Sie werden erzählt, sie werden in Bildern festgehalten und sie finden Eingang in die Literatur. Aber können sie tatsächlich geteilt werden? Julia Franck, Nino Haratischwili und Brigitte Helbling geben im Podiumsgespräch «Woran wir uns erinnern» vielschichtige Antworten.

Julia Franck, Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, stellt fest, dass man in seiner Erinnerung grundsätzlich allein ist. Die Erinnerung beginnt mit dem Ich. Die Einsamkeit der Erinnerung ist auch der vielseitigen Kulturjournalistin und Autorin Brigitte Helbling bewusst, die das Erinnern als «ziemlich mühsamen und ziemlich traurigen Prozess» beschreibt. Es gibt aber Menschen, die sich an dieselben Situationen erinnern, nur aus anderer Perspektive. So erzählt Julia Franck in ihrem neuen Buch Welten auseinander von der tiefen Verbundenheit mit ihrer Zwillingsschwester. Aufgrund der vielen geteilten Momente war es für die Zwillinge immer ein Aushandlungsprozess, die gemeinsame Wahrheit des Erlebten zu ergründen.

Unterstützt werden können kollektive Erinnerungsprozesse auch durch Bilder und Fotografien, wie Nino Haratischwili in ihrem neuen Buch Das mangelnde Licht aufzeigt. Sie betont im Gespräch, dass der Schauplatz einer Fotogalerie in ihrem Buch ihr die Möglichkeit gibt, die Chronologie der erinnerten Geschehnisse aufzubrechen. Durch die Erzählung in Flashbacks wirft Haratischwili die Frage auf, inwiefern die eigene Erinnerung verlässlich ist. Um diesem Zweifel an der eigenen Erinnerung Rechnung zu tragen, verlassen sowohl Franck als auch Helbling in ihren Werken die Ich-Perspektive und lassen auch fremde Stimmen sprechen. Zum Beispiel bezieht Helbling in ihrem neuen Roman Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich sowohl das Tagebuch ihrer Schwiegermutter als auch die Aufzeichnungen ihres Vorfahren mit ein. Dabei geht es ihr darum, eher ein bestimmtes Gefühl zu vermitteln als harte Fakten darzustellen.

Trotz des schweren Themas haben es die Podiumsgäste unter der Moderation von Lucas Gisi geschafft, eine Verbindung zum Publikum aufzubauen. Nicht selten führten die erzählten Erinnerungen der Autorinnen zu herzhaften Lachern im Saal. Was dabei leider vergessen ging, war die angekündigte Diskussion zur politischen Dimension von Erinnerungskultur.

Noëlle Lee und Jacqueline Kalberer

Starke Geschichte, starke Zeichnungen

«Ein Glück war, dass er so grosse Ohren hat», sagt Lika Nüssli lachend über ihren Vater an der Lesung zu ihrer Graphic Novel «Starkes Ding». Das hat ihr dabei geholfen, die Figur ihres Vaters zu entwerfen. Die abstrahierte Figur bietet eine grosse Projektionsfläche. Denn diese Geschichte ist kein Einzelfall: Das neue Buch von Lika Nüssli erzählt die Kindheit ihres Vaters Ernst, der damals, wie viele andere auch, verdingt wurde. Einen Franken am Tag erhielt seine Familie dafür, dass Ernst auf dem Hof eines fremden Bauern hart arbeiten musste.

Als Nüssli während des Lockdowns ihr Atelier in Belgrad nicht verlassen durfte, telefonierte sie viel mit ihrem Vater im Altersheim. Sie fragte nun zum ersten Mal vertiefter nach seiner Vergangenheit als Verdingkind und beschloss, daraus einen Comic zu machen. Im Stil ihrer Zeichnungen orientierte sie sich an Senntumsmalereien aus dem Toggenburg. Die begleitenden Texte beruhen auf den Gesprächen mit dem Vater, die Geschichte wird aber ganz bewusst durch den Blick von Lika Nüssli selbst erzählt. Im Gespräch mit Anette Gehrig hebt sie besonders die Hände ihres Vaters hervor. Durch die jahrelange Arbeit auf dem Hof wurden sie zu «übergrossen Schaufeln». Diese grossen Hände werden in Nüsslis Graphic Novel konserviert und festgehalten, was ihr am Herzen liegt. Mit Abnahme der Landwirtschaft wird es diese von Arbeit gezeichneten Hände in der Schweiz immer weniger geben.

Das Eröffnungsbild von «Starkes Ding»

Ernst ist, wie Lika Nüssli erzählt, erstaunt darüber, dass das Buch so gross und umfangreich geworden ist. Die Zeichnungen darin findet er zwar etwas wild, aber sonst ist es «scho recht». Besonders gern liest er seine eigenen Agendaeinträge übers Wetter, Velofahren und Jassen, die Nüssli in die Erzählung eingeflochten hat.

Ein gemeinsamer Beitrag von Larissa Waibel und Ronja Holler.

Surrealer Verdingbub im Toggenburg.
Lika Nüsslis Graphic Novel ‹Starkes Ding›

Surrealistische Bilder, eine traumatische Geschichte und eine Autorin, die beim Lesen ihrer neuen Graphic Novel die Performerin durchschimmern lässt. Dies war eine der ersten Lesungen am Freitagmorgen, bei der Lika Nüssli ihre Neuerscheinung ‹Starkes Ding› vorstellte.

Nüsslis Vater war ein Verdingbub im Toggenburg; ein Leben, das schwer in Worte zu fassen ist, dem die Künstlerin mit ihren ausdrucksstarken Bildern aber abhilft. Die traditionelle Senntumsmalerei, die als Inspirationsquelle diente und die eine auffällige Naivität auszeichnet, verbindet Nüssli mit subversiven Bildern, um einen Stil zu erreichen, der gleichzeitig Innenwelt und Landschaft, Gespräch und Erzählung darstellt.

In die Graphic Novel flossen Notizen des Vaters zum Wetter und zu seiner Punktzahl beim Jassen ein, Fotografien aus einer glücklicheren Kindheit, als er noch bei den eigenen Eltern lebte, und selbst die Gespräche zwischen Vater und Tochter finden ihren Platz im Buch.

Parallel zur Lesung zeigte Nüssli im Kino im Uferbau einen Teil der Bilder, die für das Buch entstanden sind, erzählt von den Gesprächen mit dem Vater, der erst nach und nach zur Sprache fand, und seiner Reaktion, als er den Band schliesslich in den Händen hielt und sich über den günstigen Preis wunderte.

Dieses Wochenende gibt es im Cartoonmuseum Basel noch Lika Nüsslis Retrospektive ‹Im Taumel› zu sehen, die unter anderem auch ihr neues Buch thematisiert. Und auch sonst kann man gespannt sein, was Nüssli als Nächstes bereit hält, denn «es gibt genug Themen hier, die noch zu bearbeiten sind.»