«Das steht mir nicht zu»

Zwanzig Minuten vor Beginn der Lesung reicht die Schlange bis weit die Treppe zum Landhaussaal hinunter. Und das, obwohl draussen die Sonne scheint. Julia Franck liest aus ihrem neuesten Werk Welten auseinander vor, bei dem absichtlich das Label «Roman» fehlt.

Denn es handelt sich um Autofiktion. Autofiktionale und reale Erlebnisse werden umkreist, die Dramaturgie ist durch Motive geprägt. Die Autorin selbst findet Autobiografien nämlich langweilig. Wer will denn schon alles nochmals in geschriebener Form erleben? Bereits als Kind braucht Franck die Flucht in die Literatur als einen schnellen Weg, um Figuren aus sich selbst zu erschaffen. Im Buch vermischen sich also wahre Erlebnisse von Franck mit den erfundenen der Erzählerfigur Julia.

Zwei Themen beherrschen das Gespräch und die Lesung. Einerseits geht es um die starken Frauenfiguren, die sich den Erwartungen der Gesellschaft ihrer Zeit widersetzen. Die Grossmutter beispielsweise ist in den 1930er Jahren als Steinmetzin tätig und studiert an der Kunsthochschule, bis sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung ins Exil nach Italien muss. Dort verliebt sie sich und bringt zwei uneheliche Kinder auf die Welt. Als ihr Liebster im Krieg fällt, muss sie sich mit den Kindern alleine durchschlagen. Die Grossmutter legt auch später noch grossen Wert darauf, dass man sich nützlich macht. Das prägt die Enkelin. Aber erst als Julia selbst früh ihre grosse Liebe verliert, finden Grossmutter und Enkelin wieder zueinander. Verlust gehört quasi zur Familiengeschichte und macht Grossmutter, Mutter und Enkelin zu «Schwestern im Geiste».

Das zweite grosse Thema ist die Armut und Unzulänglichkeit. Als Julia und ihre Zwillingsschwester acht Jahre alt sind, wendet sich die Mutter von der Grossmutter ab und flieht von Ostberlin in den Westen. Aufgrund ihrer Armut kann die Familie nur auf einem verlotterten Bauernhof leben, auf dem die Mutter alles wiederverwertet. Um ihre Kinder kann sie sich hingegen nicht kümmern. Die beiden Mädchen klettern barfuss auf Bäume und tragen kurze Hosen. Obwohl sie Deutsche sind, werden sie von den Anwohnern als Exotinnen wahrgenommen. Für Julia ist das eine schwierige Zeit, in der sie Schande, Armut und Ausgrenzung erlebt.

Franck reflektiert über den Unterschied zwischen Armut im Westen und Armut im Osten. Die Anonymität der Grossstadt Ostberlin fehlt und macht die Unzulänglichkeit und Scham der jungen Julia deutlich. «Das steht mir nicht zu», denkt Franck als Kind oft. Schon als Säugling kommt sie in verschiedene Pflegefamilien an verschiedenen Orten. Franck ist deshalb der Ansicht, dass sie schon vor dem ersten Bewusstsein ein Fremdheitsgefühl entwickelt hat. Dieses führe dazu, dass sie sich stets nützlich machen und nicht auffallen will. So ist sie auch dankbar, dass die Sozialhilfe ihr schliesslich ein Studium ermöglicht. Das ist es schliesslich, was Francks Werk ausmacht. Im Buch ist trotz allem keinerlei Bitterkeit zu finden. Franck tritt in die Fussstapfen ihrer Vorfahrinnen und ist selbst eine starke Frau.

Brücken bauen

Erinnerungen verbinden Menschen. Sie werden erzählt, sie werden in Bildern festgehalten und sie finden Eingang in die Literatur. Aber können sie tatsächlich geteilt werden? Julia Franck, Nino Haratischwili und Brigitte Helbling geben im Podiumsgespräch «Woran wir uns erinnern» vielschichtige Antworten.

Julia Franck, Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, stellt fest, dass man in seiner Erinnerung grundsätzlich allein ist. Die Erinnerung beginnt mit dem Ich. Die Einsamkeit der Erinnerung ist auch der vielseitigen Kulturjournalistin und Autorin Brigitte Helbling bewusst, die das Erinnern als «ziemlich mühsamen und ziemlich traurigen Prozess» beschreibt. Es gibt aber Menschen, die sich an dieselben Situationen erinnern, nur aus anderer Perspektive. So erzählt Julia Franck in ihrem neuen Buch Welten auseinander von der tiefen Verbundenheit mit ihrer Zwillingsschwester. Aufgrund der vielen geteilten Momente war es für die Zwillinge immer ein Aushandlungsprozess, die gemeinsame Wahrheit des Erlebten zu ergründen.

Unterstützt werden können kollektive Erinnerungsprozesse auch durch Bilder und Fotografien, wie Nino Haratischwili in ihrem neuen Buch Das mangelnde Licht aufzeigt. Sie betont im Gespräch, dass der Schauplatz einer Fotogalerie in ihrem Buch ihr die Möglichkeit gibt, die Chronologie der erinnerten Geschehnisse aufzubrechen. Durch die Erzählung in Flashbacks wirft Haratischwili die Frage auf, inwiefern die eigene Erinnerung verlässlich ist. Um diesem Zweifel an der eigenen Erinnerung Rechnung zu tragen, verlassen sowohl Franck als auch Helbling in ihren Werken die Ich-Perspektive und lassen auch fremde Stimmen sprechen. Zum Beispiel bezieht Helbling in ihrem neuen Roman Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich sowohl das Tagebuch ihrer Schwiegermutter als auch die Aufzeichnungen ihres Vorfahren mit ein. Dabei geht es ihr darum, eher ein bestimmtes Gefühl zu vermitteln als harte Fakten darzustellen.

Trotz des schweren Themas haben es die Podiumsgäste unter der Moderation von Lucas Gisi geschafft, eine Verbindung zum Publikum aufzubauen. Nicht selten führten die erzählten Erinnerungen der Autorinnen zu herzhaften Lachern im Saal. Was dabei leider vergessen ging, war die angekündigte Diskussion zur politischen Dimension von Erinnerungskultur.

Noëlle Lee und Jacqueline Kalberer