Eine müde Revolution

Das Anliegen hätte definitiv seine Relevanz gehabt. So wollten vier Historiker und Autoren und eine Bildhauerin fünf Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte beleuchten und dabei zeigen, wie diese zu einer liberaleren, weltoffeneren Schweiz beigetragen und ihre heutige Existenz mitgeformt hatten. Doch erwischten sie einen denkbar schlechten Zeitpunkt, um dieses Anliegen dem Publikum vorzutragen – am Freitagabend war die Luft bei vielen draussen.

Aber von Anfang an: Letztes Jahr gab Stefan Howald, der ebenfalls der Moderator der Veranstaltung war, ein Buch heraus, das 44 Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte näher betrachtete. 44 Autor:innen schrieben Porträts zu Personen, die einen wichtigen Einfluss auf eine liberale Schweiz hatten, die aber heute oft fast vergessen sind. Fünf davon wurden am Freitagabend unter dem Titel Revue einer Revolution vorgestellt, wobei alle einen Bezug zur Bundesverfassung von 1848 hatten. So erfuhr man etwas über den Maler Martin Disteli, der mit seinen Jahreskalendern politische Botschaften verteilte, oder über Ignaz Paul Vital Troxler, dessen Auseinandersetzung mit den USA massgeblich die Entwicklung des Schweizer Politsystems prägte.

Viele Leute schien all dies eher mässig zu interessieren. Vielleicht war es die Sonne, vielleicht ein erstes oder zweites Glas Wein, doch gerade in den hinteren Reihen wurde schon das ein oder andere Auge zugetan. Auch verliess eine nicht unerhebliche Menge die Veranstaltung eher früher als später, und sogar beim älteren Publikum scheint es mittlerweile salonfähig zu sein, kurz mal einen Anruf entgegenzunehmen, auch wenn man gerade an einer Lesung ist.

Ein Highlight gab es jedoch: Die Bildhauerin Bettina Eichin verzichtete in ihrem Teil auf eine nüchterne Wiedergabe dessen, was bereits im Buch steht, und lieferte stattdessen ein fulminantes Plädoyer gegen einen enthemmten Liberalismus, der sich von einem früheren Freiheitsbegriff völlig entfremdet hat. Dem entgegen stellte sie den Frieden, der für sie der Begriff sozialen Zusammenlebens ist und für den es alle Teile der Bevölkerung und daher massgeblich auch die Frauen braucht; denn «eine Revolution ist fällig, aber kein blutiger Umsturz.»

Kommt ein Büroangestellter auf den Polizeiposten…

Als eines der lustigsten und bemerkenswertesten Debüts der letzten Zeit stellt Manfred Papst den Roman Was der Fall ist von Thomas Duarte vor. Der Text ist dicht und doch unangestrengt, ist erzählerisch komplex und hat doch kaum Kanten. Erzählt wird die Geschichte eines Büroangestellten, der im Hinterzimmer seines Büros lebt und dort Mira beherbergt, die keine Aufenthaltsbewilligung besitzt. Eines Nachts taucht er durchnässt und schmutzig bei der Polizei auf und packt ohne eigentliche Absicht aus.

Als Duarte zu lesen beginnt, wird klar: Er hat eine ganz bestimmte Vorstellung, wie der Text klingen muss, wie dieser Büroangestellte auf dem Polizeiposten seine Geschichte erzählen würde. Der Witz des Buches kommt so besonders zur Geltung, die Erzählebenen vermischen sich beim Vorlesen und die Figuren werden plastisch mit den Veränderungen in der Stimmlage Duartes. Dies liegt sicher auch daran, dass Duarte seine Leseversion nochmals etwas bearbeitet hat.

«Eigentlich wollte ich ein Buch schreiben, in dem man verloren geht. Das ist, was mir nicht gelungen ist», meint Duarte. Die Logik hat sich ihm aufgezwungen und so entstand schliesslich trotz allem ein sehr runder Text. Dies nach zehn Jahren Arbeit und «man könnte trotzdem noch viel daran herumschreiben, aber ich bin froh, dass ich es nicht mehr tun muss.» Tatsächlich war es ein langer Prozess, bis der Roman schliesslich mit dem Gewinn des Studer/Ganz-Preises zur Veröffentlichung kam; lange hat Duarte nebenher daran geschrieben, ihn mal weggelegt, dann wieder hervorgenommen, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, «dass sich als unveröffentlichter Autor niemand dafür interessiert, was man schreibt.»

Am Schluss lässt Duarte durchblicken, dass es wohl nicht beim Debüt bleiben wird, sondern durchaus andere Ideen da sind. Doch dafür braucht er noch einen Schreibanlass, einen Grund im Roman selbst, warum dieser aufgeschrieben werden soll. In Was der Fall ist ist es ein Büroangestellter, der sich zum Geschichtenerzähler mausert; wer im nächsten Roman Duartes welche Geschichte aus welchem Grund erzählen wird, heisst es abzuwarten.

Surrealer Verdingbub im Toggenburg.
Lika Nüsslis Graphic Novel ‹Starkes Ding›

Surrealistische Bilder, eine traumatische Geschichte und eine Autorin, die beim Lesen ihrer neuen Graphic Novel die Performerin durchschimmern lässt. Dies war eine der ersten Lesungen am Freitagmorgen, bei der Lika Nüssli ihre Neuerscheinung ‹Starkes Ding› vorstellte.

Nüsslis Vater war ein Verdingbub im Toggenburg; ein Leben, das schwer in Worte zu fassen ist, dem die Künstlerin mit ihren ausdrucksstarken Bildern aber abhilft. Die traditionelle Senntumsmalerei, die als Inspirationsquelle diente und die eine auffällige Naivität auszeichnet, verbindet Nüssli mit subversiven Bildern, um einen Stil zu erreichen, der gleichzeitig Innenwelt und Landschaft, Gespräch und Erzählung darstellt.

In die Graphic Novel flossen Notizen des Vaters zum Wetter und zu seiner Punktzahl beim Jassen ein, Fotografien aus einer glücklicheren Kindheit, als er noch bei den eigenen Eltern lebte, und selbst die Gespräche zwischen Vater und Tochter finden ihren Platz im Buch.

Parallel zur Lesung zeigte Nüssli im Kino im Uferbau einen Teil der Bilder, die für das Buch entstanden sind, erzählt von den Gesprächen mit dem Vater, der erst nach und nach zur Sprache fand, und seiner Reaktion, als er den Band schliesslich in den Händen hielt und sich über den günstigen Preis wunderte.

Dieses Wochenende gibt es im Cartoonmuseum Basel noch Lika Nüsslis Retrospektive ‹Im Taumel› zu sehen, die unter anderem auch ihr neues Buch thematisiert. Und auch sonst kann man gespannt sein, was Nüssli als Nächstes bereit hält, denn «es gibt genug Themen hier, die noch zu bearbeiten sind.»

Unser Team in Solothurn:
Michael Ulrich

Die Gegenwartsliteratur erfahren, wie sie in der Gegenwart existiert, dies möchte Michael bei seinem ersten Besuch in Solothurn. Darüber hinaus: Mit Thomas Duarte über die Absurdität des Büroalltags sprechen, Lika Nüsslis Graphic Novel bestaunen und hinhören, ob sich nicht auch im Rauschen der Aare eine Poesie verbirgt.

Michael Ulrich studiert an der Uni Zürich Germanistik und TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master.