Scheinwelt oder Schweinwelt

Herzlich willkommen in der Akropolis. Anscheinend ist der Raum, in dem Roland Reichen, Dragica Rajčić Holzner und der Moderator Stefan Humbel sitzen, ganz nach griechischem Vorbild dekoriert. Wir Zuschauer*innen sehen das Ausmass der Dekoration nicht wirklich, bis auf die Weingläser mit den hellblauen Stielen und die weissen Blumen auf den Bartischchen. Zum Glück, meint Dragica Raičić.

Es geht also los, Fischernetze hin oder her. Die neuesten Texte der beiden Autor*innen sind beim Verlag «Der gesunde Menschenversand» erschienen, der sich auf Spoken Word spezialisiert. Rajčićs Buch «Glück» erzählt über Gewalt an Frauen und lässt die gebrochene Sprache so erscheinen wie sie ist. Roh, ungeschliffen und unsorgfältig. «Ich mache das Gegenteil von Sorgfalt», sagt sie. Alles komme aus einer Dringlichkeit, einem Anspruch, das Leben im Eiltempo zu bewältigen. Vom Ausdruck des Spoken Word grenzt sie sich ab. Es müsse schlussendlich eine künstlerische Qualität vorliegen bei einem Text, der veröffentlicht wird. Ob der eher mündlich oder schriftlich daherkomme, sei ihr einerlei.

Reichens Buch lässt ebenfalls durch seine Figuren Menschen zu Wort kommen, die in unserer Welt keine Stimme haben. Schonungslos erzählt der Autor in zwölf «Bitzen» aus dem Leben von Menschen, die, wie der Titel verrät, «auf der Strecke» geblieben sind. Für ihn macht die Unterscheidung zwischen Mündlichem und Schriftlichem Sinn. Denn beim Schreiben seien für ihn Stimmen sehr wichtig. Wenn er schreibt, hat er eine Stimme im Ohr. Er stellt sich vor, wie es klingen sollte. Und manchmal liest er sich die Texte selber laut vor.

Rajčić liest ihre Texte nie laut. Eine Stimme habe immer mehr Wahrheitsgehalt als ein geschriebener Text. Es entflammt eine Diskussion über die lange christliche Tradition, in der das gesprochene Wort mehr Wichtigkeit hat als das geschriebene. Wir – damit meint Rajčić uns – sollten besser Mittag essen gehen, anstatt ihren Ausführungen zuzuhören. Ich finde nicht, es wird interessant. Vor allem sie scheint eine unangepasste Person zu sein, deren Meinung ich hören will.

Stefan Humbel will auch noch nicht Mittag essen gehen und versucht immer wieder, das Gespräch auf das Thema der Kunstsprache zu lenken. Die Schrift, gerade bei Rajčić, halte oft mehr Möglichkeiten offen als das Gesprochene. Man könne etwas so oder auch anders aussprechen, und das könne dann den Sinn komplett verändern. Rajčić pflichtet ihm bei. Ja, zum Beispiel hätte es in einem Text mal «Scheinwelt» heissen müssen, es stand aber «Schweinwelt». Versprecher oder kleine Fehler schaffen oft ganz schöne Dinge.

Genau in dem Neuschaffen von Varianten liegen viele Möglichkeiten, meint auch Reichen. Texte wie die von Dragica Rajčić sieht er als poetische Bereicherung der deutschen Literatursprachen. Er meint auch, dass durch Kunstsprachen die Einzigartigkeit des individuellen Leidens besser ausgedrückt werden kann. Man habe so die Möglichkeit, das zu sagen, das einem eigentlich die Sprache verschlägt.

Humbel spricht vom ständigen Wechsel zwischen Registern, von der gebrochenen Sprache, die einen Raum mit eigenen Gesetzmässigkeiten schafft. Rajčić geht nicht darauf ein. Sie sagt dafür, was sie an Lesungen immer traurig macht. Es gehe immer um die literarische Verwertung von Schmerz. Ihre Erwartung sei aber ein Dialog über den Inhalt. Dann kommt das Zeichen der Regie und Humbel bricht das Gespräch freundlich ab.

Schade, dass das Gespräch hier aufgehört hat. Aber gut, dass der Fokus des Publikums auf die Dringlichkeit von gesellschaftlichen Themen gelenkt wurde und nicht etwa auf die Fischernetze.

Unser Team in Solothurn:
Marina Zwimpfer

Bald ist es real: Solothurn geht viral. Mit ein paar Klicks hackt sich Marina Zwimpfer dann in die altehrwürdige Säulenhalle, belauscht das Podium zu Literatur und Moral und grübelt über den Eigensinn von Kunstsprachen nach. Gespannt ist sie auf die Fragerunde für Autor*innen – und auf die Disco, die in dieser virtual reality natürlich nicht fehlen darf.

Marina Zwimpfer studiert Germanistik und Anglistik an der Universität Zürich und parallel dazu Musik mit Hauptfach Oboe an der Hochschule Luzern.