Lust am Weltuntergang

Die Hauptfrage des Nachmittags ist ziemlich klar: Haben wir Spass an der Katastrophe? Würde man diese Frage an der Zuschauerzahl des Podiumsgesprächs über «Dystopisches Schreiben» messen, erhielte man eine eindeutige Antwort: Ja. Der grosse Andrang im Theater zeigt, dass die Leute ein bemerkenswertes Interesse für dieses brisante Thema hegen. Und gewiss gibt es da eine Tendenz zum Masochismus: Wer steigt bei diesem strahlenden Wetter mit blauem Himmel und Sonnenschein schon freiwillig in ein überfülltes, stickiges und dunkles Theater?

Unter den Diskussionsteilnehmenden scheinen die jeweiligen Positionen eine klare Tendenz anzuzeigen: Die drei Autoren/-innen Karen Duve, Heinz Helle und Julia von Lucadou, die alle dystopische Texte geschrieben haben, erklären ziemlich einig, dass das literarische Schreiben ihnen die Möglichkeit bot, um mit ihren eigenen Zukunftsängsten und den verstörenden Gegenwartstendenzen umzugehen. Ein Mittel zur Selbsttherapie sozusagen. Der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn sieht das etwas anders: Muss man solche Texte denn immer gleich als «Negativbeispiele» für die Zukunft abstempeln? Er sehe eine Dystopie eigentlich eher als «eigentliche Utopie mit Gesellschaft». Wenn keine Faszination, kein Spass an solchen Welten vorhanden wäre, würden sie sich schliesslich nicht verkaufen.

Worin sich alle dann jedoch wieder ziemlich einig sind, ist, dass es praktisch unmöglich ist, utopische Literatur zu schreiben. Das sei erstens extrem langweilig – niemand will schliesslich ein Buch kaufen, in dem alles immer super läuft – , zweitens würde die Utopie vermutlich in einem einfachen Wahlprogramm enden (AHV 2020 lässt grüssen), und drittens sei der Mensch so gemacht, dass er aus allen Dingen einen doppelten Boden lesen könne. In anderen Worten: Wir sind von Natur aus Pessimisten/-innen und erkennen stets den Haken an der Sache. Doch vermutlich ist das auch der Grund, weshalb wir im Laufe der Evolution überhaupt so lange überlebt haben. In dieser Hinsicht hat unsere Lust an der Katastrophe also durchaus einen Sinn und der Gang ins stickige Theater sich gelohnt.

Schreiben von einer schlechteren Welt?

Träumen von einer besseren Welt – das klingt doch äusserst verlockend! In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sind Utopien aber äusserst rar. Mit Karen Duve, Heinz Helle und Julia von Lucadou haben sich drei Schriftsteller*innen zum Gespräch getroffen, die selbst bereits dystopische Szenarien entworfen haben. Ergänzt wurde die Diskussionsrunde durch Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn, Experte für literarische Science-Fiction.

Moderator Lucas Gisi macht den Einstieg in die Diskussion mit der Frage nach einer «ästhetischen Lust am Untergang». Offen erzählt Karen Duve darauf vom Reiz, absurd zugespitzte Szenarien zu entwerfen. Auch die Möglichkeit, die eigenen Ängste und Bedenken aus dem Kopf und auf ein Blatt Papier zu verlagern, sei für sie selbst zentral. Julia von Lucadou bringt schliesslich einen Aspekt ein, der von den übrigen Gesprächsteilnehmenden unisono bekräftigt wird: Utopie und Dystopie gehen oft bis zu einem gewissen Grad zusammen. Lucadou nennt als Beispiel den «gläsernen Menschen». Mit dem Ausbau diverser Sicherheitsmassnahmen büsse das Individuum sukzessiv an Privatssphäre ein. Philipp Theisohn fasst pointiert zusammen: «Dystopien sind Utopien mit Gesellschaft.»

Und Dystopien, das wird deutlich, schöpfen ihre Inspiration immer aus der Beschäftigung mit der Gegenwart. Heinz Helle weist darauf hin, dass die Wirklichkeit manchmal nur noch schwerlich durch finktionale Szenarien an Absurdität zu toppen sei. Auch ganz praktische Fragen finden in der Diskussion Platz: Wer kann noch erzählen und wem kann noch erzählt werden in einem apokalyptischen Szenario, bei dem die Menschheit im Aussterben begriffen ist? Oder: Wie unterscheiden sich Katastrophenfilme von literarischen Auseinandersetzungen mit der Dystopie? Besondere Aufmerksamkeit erhält aber die Frage, wieso zurzeit kaum Utopien entworfen werden. Es scheint, als wäre es deutlich schwieriger, eine rundum positive Welt zu Papier zu bringen. Ausserdem, so Theisohn, seien Utopien eben meist auch «furchtbar langweilig».

Unter den Diskutierenden herrscht mehrheitlich Konsens. Trotzdem können alle Gesprächsteilnehmer*innen immer wieder wertvolle Inputs einbringen und unterschiedliche Aspekte hervorheben. Lucadou trägt schlussendlich dazu bei, dass zumindest die Diskussion über Dystopien ein versöhnliches Ende findet: Eine vertiefte literarische Beschäftigung mit der Dystopie zeige, dass da eben doch Leute wären, die sich kritisch mit unserer Gesellschaft auseinandersetzen würden.