KW25

Schreiben ab vierzig

Charles Lewinsky

Mit seinem jüngst erschienenen Roman «Alpefisch» schreibt der Aargauer Schriftsteller Andreas Neeser sein Romandebut von 1995 neu – auf Mundart.

Von Selina Widmer
15. Juni 2020

Neesers erster Roman Schattensprünge fristete lange eine Schattenexistenz. Auch der Autor war wohl mässig begeistert, denn nun hat er den Roman neu geschrieben. «Als junge Schnuufer sett me keni Büecher schriibe», lässt er die Hauptfigur in seinem neuen Buch sagen. Der junge Sonderpädagoge Brunner findet, man solle sich erst ab vierzig an sein erstes Werk wagen. Davor wolle man zu sehr alles auserzählen, alle Überzeugungen und Ideen in einem Buch unterbringen.

Immer wieder kommt der Roman auf das Schreiben und die Literatur zu sprechen. Was auf den ersten Blick nach einer Rechtfertigungsstrategie klingen mag, entpuppt sich bald als selbstironischer Zug. Von der einzigen ernsthaft schreibenden Figur im Buch erzählt Brunner, dass sie die Semesterferien damit verbringe, auf einer Alp Kuhfladen zu trocknen.

Zum Autor

Andreas Neeser, geboren 1964 in Schlossrued (AG). Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich, danach Deutschlehrer an Gymnasien. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. 2012 gab Neeser mit «Schattensprünge» sein Romandebüt und lebt seither als freier Schriftsteller in Suhr (AG). Für sein vielseitiges Werk, das Lyrik, Romane und Erzählungen umfasst, wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Feldkircher Lyrikpreis (2008) oder dem Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia (2014). Neeser veröffentlichte Anfang dieses Jahr gleich zwei Romane: «Wie wir gehen» und «Alpefisch» (Zytglogge).
Foto: © Ayse Yavas

Die Handlung des neuen Romans entspricht der von Neesers Debüt: Eine Liebesgeschichte, die an der Vergangenheit scheitert. Brunner trifft in der Bibliothek auf die Jusstudentin Kathrin mit den schönen Augen. Die Liebe schlägt wie ein Blitz ein. Doch «Glück isch nüüt für gueti Gschichte.» Tatsächlich wird es schon bald kompliziert, chaotisch, traurig. Brunner und Kathrin sitzen schweigend zusammen im Auto, streiten sich mit kleinen, bissigen Worten. Dann glaubt Kathrin doch wieder, dass das Glück noch kommen wird. Aber es kommt nicht.

Beide Hauptfiguren hadern mit ihrer Geschichte. Brunner musste mit ansehen, wie sein Bruder bei einem Unfall ums Leben kam. Er stand beim sterbenden Bruder und konnte nicht helfen. Seine Hilflosigkeit verfolgt ihn. Von seiner Familie hat er sich distanziert und leidet zunehmend an seiner Einsamkeit. Die ertränkt er im Alkohol, was immer wieder dazu führt, dass er halluziniert. Kathrin ist durch den sexuellen Missbrauch in ihrer Jugend traumatisiert und kann deshalb kaum zwischenmenschliche Nähe zulassen. Obwohl ihr Vater von dem Missbrauch wusste, hatte er sie nicht vor seinem Arbeitskollegen beschützt. Sie wohnt dennoch beim Vater und arbeitet sogar in seiner Firma.

Neeser gewährt durch subtile Hinweise einen tiefen Einblick in die Figuren, ohne sie zu überzeichnen. Auch wenn es zum Beispiel nur die Gefühllosigkeit Brunners ist, sein innerer «Winter». Diese Stimmungen sind stark von der Sprache geprägt. Das Schweizerdeutsche kann hier teils mit einem Wort etwas ganz genau beschreiben, teils fehlen ihm die Worte. Damit spielt Neeser.

Neben den feinfühlig komponierten Stimmungen schafft der Text zudem eine szenische Unmittelbarkeit, die den Mundartroman von Neesers anderem, ebenfalls unlängst erschienenen Roman Wie wir gehen abhebt. Alles, was darin etwas gekünstelt daherkommt, tritt in Alpefisch ungeschminkt auf die Bühne. Der Mut, den ersten Roman nochmals zu schreiben und dabei den eigenen Dialekt einzusetzen, hat sich also gelohnt. Alpefisch ist ihm durch und durch gelungen. Bestimmt, weil er jetzt über vierzig ist.

Andreas Neeser: Alpefisch. 109 Seiten. Basel: Zytglogge 2020, ca. 26 Franken.