KW12

Eine Sprache finden

Tom Kummer

Gefühle, Dorfleben und Schicksal gehören zum erzählerischen Inventar von Andreas Neeser, dessen von einem unaufgeregten Gestus geprägtes Werk bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. In seinem neuesten Roman «Wie wir gehen» tritt mit dem Thematisieren der Sprache ein neues, selbstreflexives Moment zum bisherigen Stoffkreis hinzu.

Von Selina Widmer

«Das ist nichts für unsereins.» Zurückhaltung und Duckmäusertum prägen das Leben von Monas Vater, der als Verdingbub auf dem Bergbauernhof des Onkels aufgewachsen ist. Seine Tochter Mona wehrt sich dagegen, dass die Lebenseinstellung ihres Vaters auch für sie zum Schicksal wird. Sie will mehr. Sie will selbstbestimmt leben, Gefühle und Kommunikation zulassen und die Lücke, die sich zwischen ihrem Vater und ihr aufgetan hat, zur Sprache bringen.

Das droht die Grundfrage des Romans zu verunklaren. Denn diese lautet ganz klar: Kann Sprache kitten? Kann sie Brücken bauen zwischen Menschen und Generationen? Als Übersetzerin ist es Monas Job, zwischen Kulturen zu vermitteln, die Sprache ist ihr Werkzeug. Doch im direkten Kontakt zum Vater scheinen ihre Fähigkeiten nicht auszureichen. Es muss ein weiteres Mittel, das Diktiergerät, hinzugezogen werden, damit die beiden die Aussprache wagen.

Zum Autor

Andreas Neeser, geboren 1964 in Schlossrued (AG). Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich, danach Deutschlehrer an Gymnasien. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. 2012 gab Neeser mit «Schattensprünge» sein Romandebüt und lebt seither als freier Schriftsteller in Suhr (AG). Für sein vielseitiges Werk, das Lyrik, Romane und Erzählungen umfasst, wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Feldkircher Lyrikpreis (2008) oder dem Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia (2014). Neeser veröffentlichte Anfang dieses Jahr gleich zwei Romane: «Wie wir gehen» und «Alpefisch» (Zytglogge).
Foto: © Ayse Yavas

Sie überredet ihren an Krebs erkrankten Vater dazu, seine Lebensgeschichte auf einem Diktiergerät festzuhalten. In nur 47 Minuten erzählt der Vater seine Geschichte, der Mona ihre Sicht auf die Vater-Tochter-Beziehung zur Seite stellt. Es gelingt dem Roman erstaunlich gut, zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin- und herzuspringen. Sogar, wenn mit Monas Schilderung der Gegenwart eine dritte Generation in Form ihrer Tochter ins Spiel kommt. Dabei psychologisiert Neeser jedoch mehr als nötig und spricht offensichtliche Tendenzen der Figuren überdeutlich aus, so dass der Roman stellenweise unnötig belehrend wirkt.

Das Buch stellt Kommunikation nicht als Heilsversprechen dar, sondern es wägt verschiedene Verständigungsversuche ab, hinterfragt, wirft Möglichkeiten auf. Dadurch und auch dank des offenen Schlusses kippt der Roman insgesamt nicht ins Rührselige, sondern gewinnt einen nachdenklichen, feinfühligen Charakter, zu dem auch die unauffällig ruhig rhythmisierte Sprache beiträgt.

Neesers Roman ist deshalb viel mehr als ein Generationenroman; der Mentalitätswandel, der bisher im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stand, ist nicht der Kern von Wie wir gehen. Die drei Generationen stehen für verschiedene Möglichkeiten, «wie wir gehen», wie man seinen Lebensweg beschreitet und im Falle des Vaters von Mona ihn am Ende wieder verlässt. Die durchaus generationstypischen Verhaltensweisen sind lediglich Inszenierungen verschiedener Kommunikationsmuster. Dem Roman gelingt es, die Rolle der Sprache zu charakterisieren und das funktionierende sowie scheiternde Bemühen um Verständigung auf den Punkt zu bringen.

Andreas Neeser: Wie wir gehen. 216 Seiten. Innsbruck: Haymon Verlag 2020, ca. 25 Franken.

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