KW22

Liechtensteinische Friedensfeldzüge

Joe Incardona

Die Liechtensteinische Literaturszene blüht seit Jahren  auf. Doch es fällt ihr noch immer schwer, inhaltlich über die gefestigten Klischees des Kleinstaates hinauszublicken.

Von Anton Beck
25. Mai 2020

In Nationen zu denken, hat einen bitteren Beigeschmack. Berechtigterweise, wie die Geschichte zeigt. Wahr ist aber auch, dass die moderne Welt aus Nationen besteht. Wer keinen gültigen Pass hat, tut sich in den meisten Fällen schwer, legal eine Grenze zu übertreten, und auch auf kultureller Ebene hat die Nation – ironischerweise international – einen Einfluss. Ob nun in enger Form des Schweizer Buchpreises oder grösser gedacht wie die British Music Awards.
Die Nation, wie auch die Sprache, schirmt Menschen ab, schafft Gruppen, und bricht unterschiedlichste Individuen auf einen gemeinsamen Nenner herab. Manche fühlen sich damit wohl, anderen ist die Situation unangenehm wie ein Husten, der nicht verschwinden will. Kulturschaffende von Kleinstaaten fallen eher in letztere Kategorie. Einerseits macht es ein Kleinstaat, der auf eine eher dünne (kulturelle) eigene Geschichte zurückblicken kann, ein Staat, der, wie im Falle Liechtensteins, keine eine eigene Währung oder keinen Flughafen besitzt, einem schwer, so etwas wie Patriotismus aufkommen zu lassen. Andererseits geziemt es sich in der Tradition nationalitätskritischer Dichter*innen und Denker*innen ohnehin nicht, in ein pathetisches Schwärmen über Landstriche, Flaggen und Hymnen zu geraten.

Une littérature très mineure

Und doch: Wer in der Schweiz Schriftsteller*in werden will, kann auf Grössen wie Gottfried Keller oder Johanna Spyri zurückblicken, aus Österreich stammen Namen wie Bachmann, Haushofer oder Musil, von Deutschland braucht man gar nicht erst anzufangen. Liechtenstein aber hat kein vergleichbares Äquivalent, ist sozusagen an weit zurückreichenden historischen literarischen Berühmtheiten traditionslos und ist diesbezüglich auch heute noch sehr bescheiden. Liechtenstein hat keinen Jonas Lüscher, bei dessen exakten Formulierungen aufgehorcht wird, und keine Stephanie Sargnagel oder Ronja von Rönne, die durch das deutschsprachige Feuilleton streifen und spinöse Bemerkungen als Krümel ihrer Präsenz hinterlassen. Die Staatsgrösse geht dabei nicht als Grund einher, bedenkt man etwa, dass die eigenständige Literaturschreibung der Färöer-Inseln, ein Staat mit einer vergleichbaren Einwohnerzahl, nach der Jahrhundertwende mit Namen wie William Heinesen hervorsticht, und sich einzelne färöische Schriftsteller*innen mittlerweile stark im Kontext der grösseren skandinavischen Staaten etablieren konnte. Konkret zeigt sich das etwa an den Gewinner*innen des Nordiska Rådets Literaturpris, des angesehensten skandinavischen Literaturpreises.

Den Kleinstaat schreiben
Den Färöern ist eine kulturelle Emanzipation aus dem dänischen Kolonialismus gelungen, Liechtenstein hat Vergleichbares lange Zeit verpasst. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts begannen zwar die ersten Namen aufzutauchen, Namen wie Ludwig Marxer oder Michael Donhauser, aber ihr Oeuvre war nicht unbedingt darauf bedacht, als liechtensteinisches Autonomiemerkmal verstanden zu werden. Während Liechtenstein also keine hervorstechenden Sterne am Literaturhimmel hat und nie welche hatte, gibt es dennoch eine liechtensteinische Literaturszene. So hat Liechtenstein für einen Kleinstaat mittlerweile verhältnismässig viele aktive und gut funktionierende Kulturinstitutionen mit verhältnissmässig vielen Mitglieder*innen – gerade auch literarisch, ob nun das Liechtensteinische Literaturhaus, der Autorenverband IG-Wort oder der P.E.N.-Club Liechtenstein. Diese sind gut miteinander verflochten, wahrscheinlich besser als bei grossen Staaten. Im Kontext parteipolitischer Positionierungen und kritischer Texte kann das allerdings auch schnell zum Nachteil werden. Dennoch, eine Liechtensteiner Literaturszene existiert. Diese besteht allerdings vielmehr aus einem Kollektiv an Stimmen und weniger aus einzelnen, über die Landesgrenzen hinaus bekannten Autori*innen mit Starallüren. Natürlich liegt es in der Natur der Dinge, dass Autorschaft in den meisten Fällen nun einmal auf einzelne Menschen hinabgebrochen wird, aber die Verknüpfung zu der Nation als heikles Konstrukt, das es nun einmal ist, zeigt sich in Liechtenstein noch deutlich präsenter als in anderen Ländern. Wenn beispielsweise wie jüngst Daniel Kehlmann für den Booker Prize nominiert ist, wird dies nicht unbedingt als ein Gewinn deutscher Literatur interpretiert. Wenn hingegen, um beim obigen Beispiel zu bleiben, ein färöischer Text beim Nordiska Rådets Literaturpris gewinnt, wird dies deutlicher auf die Nation bezogen. Kleinstaaten sind in der öffentlichen Wahrnehmung enger mit ihren Kunstschaffenden verbunden – ob man das nun als Vor- oder Nachteil betrachtet, sei dahingestellt. Ganz sicherlich ein Nachteil ist diese Fusion aber in Bezug auf die literarisch verarbeiteten Themen.

Eine literarische Steueroase?

Diesen Frühling erschien Für immer die Alpen, der Debütroman des in Liechtenstein aufgewachsenen Autors Benjamin Quaderer. Er erzählt die Geschichte des Datendiebs Heinrich Kieber nach, dem es vor Jahren gelang, Liechtensteins klischeebehafteten Ruf als Steueroase einmal mehr zu untermalen. Steueroase – das ist ein Stichwort, bei dem viele Liechtensteiner*innen die Augen verdrehen, weil sie nichts mehr damit zu tun haben wollen. Die typische Liechtensteinerin, insofern eine solche Kategorisierung überhaupt Sinn macht, arbeitet schon lange nicht mehr auf einer Bank oder im Treuhandwesen, sondern genauso wahrscheinlich bei einem Bauunternehmen, im Bildungswesen, im Tourismus oder irgendwo sonst auf der breiten Achse möglicher Berufe. Zwar wurde das Land von beidem stark geprägt, aber mittlerweile ist es und mit ihm seine Einwohner*innen so vielfältig wie überall sonst auf der Welt auch. Wer im Jahr 2020 einen Liechtenstein-Roman schreibt und als Protagonisten einen Datendieb und Banker einsetzt, hat sich mit dem Land, so wie es heute ist, nicht befasst. Vielmehr ist es ein ungenauer, etwas herablassender Blick von aussen, was nochmals unterstrichen wird, bedenkt man, dass Quaderer schon seit Jahren in Berlin lebt. Ein liechtensteinischer Banken-Roman ist bloss noch ein Spiel mit gefestigten Vorurteilen und in etwa so innovativ, wie wenn eine norwegische Autorin eine Wikinger-Erzählung schriebe. Tatsächlich existieren sehr viele solcher Publikationen und so wichtig es auch ist, sich mit diesem Stück liechtensteinischer Geschichte zu befassen, so ermüdend ist es doch, wenn dies über Jahrzehnte repetitiv, ohne neuen Ansatz, getan wird.

Zurück zu den Wurzeln

Doch es gibt auch erfrischend innovative Auswüchse liechtensteinischer Literatur wie etwa Anna Ospelts Wurzelstudien, ebenfalls dieses Frühjahr erschienen. In autofiktionaler Manier macht Ospelt sich auf die Spurensuche nach dem Verleger Henry Goverts, was auch in Ospelts eigene Vergangenheit führt. Doch der Inhalt ist in Wurzelstudien hintergründig, vielmehr geht es um ein Spiel mit sich wiederholenden Pflanzen-Metaphern und der Entität «Text» an und für sich. Immer wieder tauchen verschwommene Fotografien auf und ebenso verschwimmen die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik, zwischen korrekter und experimenteller Syntax und zwischen in der Literatur etablierten und noch verruchten Quellen des Internetzeitalters. Auch Wurzelstudien spielt teilweise in Liechtenstein, aber es geht nicht darum den Ort zu bewerten, er ist vielmehr wie alle anderen Lokalitäten (ob nun Städte wie Berlin oder abstrakter gedachte Orte wie «der Garten» oder «der Wald») ein stiller Hintergrund, der angedeutet, aber nicht gross beachtet wird. Es ist eine Art Friedensfeldzug, der zwischen Liechtenstein und der Autorin geschieht, kein abwertender Blick einer in die Ferne Gezogenen auf die ländliche Provinz und kein Wühlen in längst bekannten Wunden liechtensteinischer Geschichte. Liechtenstein wird hier nicht als Provokation benutzt, denn das gab es bereits zur Genüge, das ist kein Schritt vorwärts, sondern einer zurück.

Es gibt immer mehr liechtensteinische Autor*innen, die denselben Weg wie Ospelt gehen und sich in die deutschsprachige Literaturszene einbetten, ohne die Verbindung zu Liechtenstein zu verlieren und zugleich aber diese Verbindung auch nicht zu instrumentalisieren. Erstmals seit Jahrzehnten tut sich etwas in der liechtensteinischen Literatur, auch wenn dieser neue Weg im deutschen Feuilleton keineswegs so zugespitzte Schlagzeilen zu provozieren vermag, wie es zornige Steueroasen-Krimis können. Es wird sich daher zeigen, ob sich dieses Novum etablieren wird. Zu hoffen wäre es.