KW23

In der Po-Ebene

Joe Incardona

Anna Felders Roman «Quasi Heimweh» erschien im Jahr 1970 und wurde nun vom Limmat Verlag neu aufgelegt. In ihren Geschichten über die italienische Diaspora der Sechzigerjahre entwickelt die Schweizer Autorin eine Poetik der Differenz und des Dazwischen, die mit viel Melancholie über die Fremde, das Zuhause und das Erwachsenwerden nachdenkt.

Von Darja Keller
1. Juni 2020

Eine Stimme aus dem Dazwischen

Eine junge norditalienische Lehrerin kommt ins Aargauer Mittelland, «ein «Karussell von Dörfern und kleinen Industriestädten». Weil sie an verschiedenen Schulen unterrichtet, muss sie zwischen den Stunden hin- und herpendeln. Sie isst Blockschokolade, an der sie sich «fast die Zähne ausb[eisst].» Und sie schaut aus dem Fenster des Postautos in eine Landschaft, der es irgendwie an Intensität zu fehlen scheint im Kontrast zur Sprache der Erzählstimme, die die Durchschnittlichkeit der Umgebung und des Geschehens poetisch überlädt. Wir hören eine Stimme aus dem Dazwischen: Die Lehrerin ist Komplizin ihrer Schüler*innen, gleichzeitig in einer Mittlersposition zwischen schweizerischem Schulsystem und italienischen Eltern; gleichzeitig selbst Beobachterin und Aussenseiterin in einem Land, dessen Sprache sie bis zum Schluss nicht annimmt.

«Du hast die Po-Ebene»

Die Protagonistin wohnt mit ihrem Bruder im Dachstock eines alten Hauses in Aarau. Der Dachstock ist ein langgezogener Raum, den die Geschwister den «Zug» nennen. Sie bleiben «ein ganzes Jahr» dort, und dieses Jahr bildet die erzählte Zeit des Romans. Der «Zug» bleibt also, obwohl eine Form von Zuhause, das, was sein Name impliziert: Eine Durchgangsstation, ein Transportmittel. Im staubigen Abendlicht des «Zugs» sitzen sie mit ihren Freunden zusammen, Zwischengestalten wie sie selbst, Gastarbeiter, Zugezogene, Secondos.

Zur Autorin

Anna Felder, geboren 1937 in Lugano, Literaturstudium in Zürich und Paris, Promotion über Eugenio Montale. Danach Tätigkeit als Italienischlehrerin in Aarau und Schriftstellerin. Felders literarisches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke in italienischer Sprache, der Grossteil liegt in deutscher Übersetzung vor. 1998 wurde ihr für ihr Gesamtwerk der Schillerpreis verliehen, 2018 zeichnete sie das Bundesamt für Kultur mit dem Grand Prix Literatur aus. Felder lebt heute in Aarau und Lugano.
Foto: © Yvonne Böhler

Wenn jemand von ihnen sich nach dem Zuhause sehnt, sagen sie: «Du hast die Po-Ebene», weil ihr Freund Gino, ein Secondo, bei jedem Blick auf die Aare oder die Limmat an den Po in der italienischen Heimat denken muss. Sie verwenden ein Bild, da, wo die Schweizer*innen ein Kompositum gebildet haben: Heimweh. Und vielleicht deswegen diese merkwürdige Unentschiedenheit im deutschen Titel des Romans – nicht wirklich, sondern nur «quasi» Heimweh, weil das Heimweh ja selbst ist ein Begriff ist, der den Schweizer*innen gehört und nicht der Protagonistin.

«Zwischen da, wo es regnet, und da, wo es nicht regnet»

Obwohl auf Italienisch verfasst, erschien Quasi Heimweh 1970 zuerst in der deutschen Übersetzung. Es war das Debüt der Tessiner Autorin Anna Felder, die einst für ihr Literaturstudium in die Deutschschweiz zog. Während ihrer Zeit als Gymnasiallehrerin in Aarau veröffentlichte sie Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke, stets auf Italienisch. Ihr Debütroman Quasi Heimweh erschien 1972, zwei Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung, erstmals im italienischen Original unter dem Titel: «Tra dove piove e non piove» – zwischen da, wo es regnet, und da, wo es nicht regnet. Der Titel «Quasi Heimweh» ist somit bereits ein nachträgliches – und publizistisch vorgängiges – Werk des Übersetzers. Die Verschiebung von einer Ortsbeschreibung hin zu einem Gefühl, dem Heimweh, für das es in der Sprache der Protagonistin keine Bezeichnung gibt, wiederholt das Moment der Dazwischenseins auf paratextueller Ebene. Das Motiv der Zwischenposition kehrt in jeder der zahlreichen Geschichten, die im Roman locker übereinandergelegt und ineinander gespiegelt werden, wieder. Quasi Heimweh ist ein grobmaschiges Gewebe, wie die Geschichten ihrer Schüler*innen, die die Protagonistin teils listenartig wiedergibt, eine fängt an, eine andere hört auf, und einige Geschichtenfäden reissen rapide ab, einige Schüler*innen ziehen zurück nach Italien, verschwinden ohne Abschied.

Vermeintlicher Universalismus

Im Jahr 2018 erhielt Anna Felder den Schweizer Grand Prix der Literatur für ihr Lebenswerk. In einem vielfach zitierten Ausschnitt ihrer Laudatio wird ihre Prosa als melodische hervorgehoben, «in de[r] die Musik zuweilen wichtiger ist als das Libretto, das Wortgewebe wichtiger als der Erzählstrang.» Gleichzeitig und in Bezug darauf versteht beispielsweise das NZZ-Feuilleton Felder keineswegs als politische Autorin. Natürlich wurde «Quasi Heimweh» im Jahr 1970, dem Jahr, in dem die «Zweite Initiative gegen Überfremdung», die so genannte Schwarzenbach-Initiative, die vor allem auf die italienische Diaspora abzielte, politisch gelesen. Doch das gehe, folgt man dieser Argumentation, aus den Umständen der Zeit hervor, nicht aus dem Text selbst. Felder reflektiere in ihrem Schreiben vielmehr «ganz schlicht die Bedingungen des Daseins». Universalismen wie diese sind mit Vorsicht zu geniessen – vor allem, wenn die Erzählstimme aus einer relativ marginalisierten und so gar nicht universalen Perspektive spricht wie in diesem Text. Mit dem Insistieren auf der Musikalität und auch Universalität von Anna Felders Texten – da Musik gemeinhin ja auch gerne als universelle Sprache verstanden wird – wird der Fokus weggelenkt davon, dass «Quasi Heimweh» eben auch die sehr konkreten Bedingungen des Daseins untersucht und dies durchaus auch ausserhalb des Zeithorizonts von 1970 politisches Potenzial aufweist.

Poetik der Differenz

Gerade heute in Zeiten der Identitätsdebatten ist «Quasi Heimweh» politisch aktueller denn je. Es stimmt, Felders Sprache fliesst melodisch, fein, die Protagonistin beobachtet, schlüpft manchmal in kleinen Binnenerzählungen in neue Protagonisten, einen italienischen Maurer, einen bürgerlichen Schweizer, um dann wieder zurückzukehren zu ihrer eigenen Geschichte, zur zarten Beziehung mit Gino, zur vergangenen mit Fabio, zum eigenen Erwachsenwerden. In all diesen Erzählsträngen, doch vor allem im Erzählen vom Zusammensein als Minderheit, dem Komplizentum, dem natürlichen Verständnis derer, die Gleiches oder Ähnliches erleben, der verschworenen Gemeinschaft im «Zug» – in diesen Motiven, die Differenz akzentuieren, den Leerraum hervorheben, in dem die Erzählstimme sich befindet, in diesen nur scheinbar bloss feinsinnig-melodischen Szenen, gelingt dem Text Grosses: Sein politisches Potential liegt gerade im sanften, aber entschiedenen Akzentuieren der eigenen Differenz, die sich einer Rhetorik von Anpassung, Gleichheit und Eingliederung wirkungsvoll entzieht.

Anna Felder: Quasi Heimweh. 224 Seiten. Zürich: Limmatverlag 2019, ca. 32 Franken. Titel der Originalausgabe: «Tra dove piove e non piove» (1972). Übersetzt von Federico Hindermann.