KW24

Verbrechen im Quadrat

Joe Incardona

Liest man Joseph Incardonas neuen Roman «La Soustraction des Possibles» («Die Unterschlagung des Möglichen»), bleibt einem die Luft weg wie nach einem Schlag in die Magengrube – und man will mehr davon.

Von Charly Rodrigues
8. Juni 2020

Dieses Buch ist kein Buch für Minderjährige. Es ist kein Buch über eheliche Treue und noch weniger über glückliche Liebe. Es ist kein Buch über Prostitution, oder zumindest nicht direkt. Aber Menschenhandel spielt darin eine Rolle: seine Grausamkeit, Authentizität und Unmittelbarkeit lassen uns erschaudern. Verführung und Sex führen hier niemanden zur Erfüllung, sondern in den Tod und dienen als Druckmittel, zur Manipulation, Kontrolle und Einschüchterung. Es ist auch keine Geschichte über die Ehrlichkeit der Schweizer Banken und Bankiers; diese Ehrlichkeit war in den 80er Jahren inexistent. Und sie ist es sehr wahrscheinlich auch heute noch, wenn man die Skandale der UBS und ihrer Finanzjongleure betrachtet, die in letzter Zeit immer wieder – mehr oder weniger im Jahresrhythmus – mit groben Fehltritten von sich reden machten. In der Welt von La Soustraction des Possibles gibt es nur einen absoluten Herrscher, einen Gott: das Geld.

Genève Noire

Incardonas Sprache lässt die Stadt Genf lebendig werden. Sie wird zum Kulminationspunkt eines unersättlichen, unerbittlichen, kranken und kriminellen Kapitalismus; wo Geldwäscherei niemanden schockt, wo die unbarmherzigen, scheinbar über dem Gesetz stehenden Trader leben, wo die Hungernden in den Tellern der Mächtigen landen. Genf wird zum neuralgischen Zentrum zwischen albanischer und korsischer Mafia, zwischen russischer Politik und skrupellosen Investoren, zwischen Überfällen und Schlägereien. Die Stadt verwandelt sich in eine Bühne für ein Ensemble von ziemlich untypischen Charakteren; Tänze und Begegnungen, die sich langsam hochschaukeln und immer stärker und brutaler werden. Anerkennend stellt man fest: Ausgehend von einer unspektakulären Zeitungsmeldung (ein Vermögensverwalter streicht bei jeder Transaktion seiner Kunden ein Paar Rappen ein) enthüllt dieser Roman Noir seine solide und erhabene Konstruktion; ein als Thriller verpackter Roman, zweifelsohne ein Pageturner, der mit Bravour alle Plattitüden simpler «Unterhaltungsliteratur» umschifft.

Zum Autor

Joseph Incardona, 1969 als Sohn eines Sizilianers und einer Schweizerin geboren, lebt und arbeitet in Genf. Er ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Drehbüchern und Comics. Für den Roman «Derrière les panneaux il y a des hommes» (Finitude, 2015) erhielt Joseph Incardona 2015 den Grand prix de littérature policière, und 2017 wurde er der erste Preisträger des Prix du polar romand für den Roman «Chaleur» (Finitude, 2015).In deutscher Übersetzung erschien bisher unter dem Titel «Nächster Halt: Brig» der dritte Teil seiner André Pastrella-Trilogie, die aus den Romanen «Banana Spleen» (2006/18), «Le Cul entre deux chaises» (2014) und «Permis C» (2016) besteht.

Der Plot

Worum geht es also? Der Tenniscoach Aldo Bianchi ist ein Schönling, dessen Karriere sich dem Ende zuneigt und der seine Schülerinnen verführt; stinkreiche, reife Frauen auf der Suche nach einem zweiten Frühling. Ins Rollen kommt die Handlung als der Italiener ein Auge auf Odile Langlois wirft. Über das aussereheliche Vergnügen der beiden hinaus, schlägt sie ihm vor, mysteriöse Geldtransporte für die Geschäfte ihres Ehemannes zu eskortieren. Letzterer ist ein dicker Schwerreicher, der dank Geschäften mit gentechnisch veränderten Organismen noch mehr absahnen will. Auf seinem Weg trifft Aldo auf die bildhübsche Traderin Svetlana; auch sie ist eine Marionette in dieser dubiosen Operation. Etwas Tragik wird ihre Liebe auf den ersten Blick überschatten – ganz im Stile Victor Hugos. Weitere Charaktere tauchen in diesem mehrstimmigen Roman auf; der egozentrische Karrieretyp Christophe Noir und «Mimi» Leone, die Lieblingsfigur des Erzählers. Sie ist korsische Mafiosa, Witwe, Mutter eines Kindes mit Trisomie 21, Literaturliebhaberin (vertieft sich gerne in Ramuz) und die Ruhe in Person – wenn sie nicht gerade einen Racheakt im Stile Tarantinos ausheckt. Um beim Vergleich mit dem Kino zu bleiben: Die Entwicklung der Handlung und die Charaktere erinnern an das gewalttätige und charismatische Universum von Guy Richie (Snatch, Rock N Rolla, The Gentlemen).

Das Buch als Tresor

Wer Joseph Incardona liest, kann sich nicht nur an einer kunstvoll verstrickenden Erzählung erfreuen. Der Autor spielt mit allen möglichen Registern und Genres; seine energiegeladene Sprache marschiert, springt, unterbricht, schreit oder geht in Flammen auf. Oder aber sie breitet sich geschwätzig aus und schweift ab auf scheinbare Nebenschauplätze, beobachtet dort mit Verachtung die Bitterkeit und Absurdität des menschlichen Daseins, und arbeitet systematisch drei für die Geschichte entscheidende Elemente heraus: die Herkunft der Charaktere, deren soziale Stellung und den geopolitischen Kontext. Der Roman ist voller Schätze – geschliffene Sätze, die plötzlich und ohne Vorwarnung auftauchen, an Aphorismen erinnernde Formulierungen, die das Erzählen hin zur Philosophie öffnen. Und: Auch als Objekt ist La Soustraction des Possibles gelungen; von den Èditions Finitude als Goldbarren entworfen und mit glänzenden Zahnrädern versehen, materialisiert sich die Innenwelt des Romans als Buch.

Übersetzung aus dem Französischen von Steven Wyss.

Joseph Incardona: La Soustraction des Possibles. Le Bouscat: Éditions Finitude 2020, 400 Seiten, ca. 42 Franken.

Zum Verlag