KW21

Von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, das Glück zu fassen. Gespräch mit Dragica Rajčić Holzner

Dragica Holzner

Lesungen werden abgesagt oder verschoben, Literatur findet derzeit online statt. Weil Dragica Rajčić Holzner aber gerade in Zürich war, konnte Ursina Sommer nicht widerstehen und hat sich mit der Autorin in ihrer Wohnung zu einem Gespräch über das neue Buch, die Besessenheit beim Schreiben und die Stimmen des weiblichen Ichs getroffen – unter strikter Einhaltung des Social Distancings, versteht sich.

Von Ursina Sommer
22. Mai 2020

Dragica, du hast gestern dein neues Buch fertiggestellt. Worauf dürfen wir uns freuen? 

Liebe um Liebe kommt im September bei Matthes & Seitz heraus und ist eine erweiterte Version meines letzten Buchs, Glück, welches als langes Gedicht geschrieben ist und als edition spoken script beim Gesunden Menschenversand herauskam. Es kommen dieselben Figuren vor und ich gehe auch wieder der Frage nach, wieso Frauen in unterschiedlichen Generationen in einen Sog der Gewalt geraten. Mehr will ich noch nicht verraten! Ich bin sehr gespannt, ob das Konzept aufgeht. Aber das weiss ich nie, ich brauche erst Rückmeldungen. Mit der Intention und Rezeption ist das wie beim Kochen: Ob es an den Zutaten liegt oder an mir, meine Absicht spielt nur eine kleine Rolle, wenn es darum geht, wie es anderen schmeckt.

«Liebe um Liebe» ist also ein Roman, deine früheren Texte sind hingegen Gedichte und Theaterstücke. Welche Möglichkeiten bietet dir die epische Form?

Ich schreibe seit 2007 daran. Man sollte nicht von Möglichkeiten sprechen, sondern fragen, was mich in diese Verdammnis getrieben hat! Es gibt beim Schreiben einen fast organischen Zwang, welcher wahrscheinlich in der Nähe von Wahn anzusiedeln ist, wo etwas getan werden muss. Wenn man dabei selber von Anfang an wüsste, was man finden würde, dann hört das Buch schon auf. Ich hatte keine Ahnung, ich war besessen. Mein vorletztes Buch, Warten auf Broch, wurde ein Essay von 90 Seiten. So entstehen meine Bücher. Ich schreibe und bis zuletzt weiss ich nicht, wohin es geht und wie es endet.

Deine Texte werden oft unter dem Schlagwort «Migration» besprochen. Stört dich das nicht manchmal?

Mich stört in erster Linie, dass anhand äusserlicher Faktoren mein literarischer Beitrag erklärt wird. Ich bin migriert, das ist ein Fakt, ich schreibe auf Deutsch, und zwar – bevor die Frage kommt, sage ich es jetzt direkt: Ich schreibe in einem unvollendeten, aber für mich völlig verständlichen Deutsch, so sind meine Gedichte entstanden. Ich lebe jetzt schon seit vierzig Jahren in der Schweiz und irgendwann einmal ist dieser Zugang über die «Migrantenliteratur» etwas flach. Man wird nicht Schriftsteller oder Schriftstellerin, weil man ein Migrant oder eine Frau ist. Das Schreiben ist vielmehr etwas Existentielles. Wenn man über meine Texte redet, kann man über Migration reden, klar. Aber wenn man aus der verkürzten Formel «schreibende Migrantin» alles Weitere erklären will, dann ist das schon sehr reduktiv.

Zur Autorin

Dragica Rajčić Holzner, geboren 1959 in Split, lebt als Autorin und Dozierende für literarisches Schreiben in Zürich und Innsbruck. Rajčić Holzner schreibt Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke und hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt «Warten auf Broch» und «Buch von Glück». Sie wurde unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.
Foto: © Ayşe Yavas

Wo wir beim Thema Deutsch sind: Friedrich Dürrenmatt hat einmal gesagt, das Schweizerdeutsche, seine Muttersprache, sei ihm die Sprache seines Gefühls, die deutsche Standardsprache hingegen die Sprache seines Verstands. Was bedeutet es für dich, auf «Hochdeutsch» zu schreiben?

Die Verkürzung des Ausdrucks im Dialekt ist mir sehr sympathisch. Einmal hörte ich in den USA, wie eine Mutter ihr Kind fragte: «Bisch müed?» Ich dachte, ich träume. Es stellte sich heraus, dass die beiden Amish waren. Dieser Moment war meine Geburt als Schweizerin – mir sind die Tränen gekommen. Für mich fühlte sich das genauso an, wie wenn ich in der Schweiz etwas von meinem dalmatinischen Dialekt aufgeschnappt hätte. Es gibt eine starke emotionale Verbundenheit mit dem Dialekt, weswegen ich mit meinen Kindern nur dalmatinischen Dialekt rede, auch wenn sie manchmal enttäuscht sind, dass sie nicht richtig Kroatisch können. Bei der Muttersprache, dem Dialekt, gibt es einfach keine Verstellung, die bei der Standardsprache immer mitschwingt.

Mit diesem Sich-verstellen erhält man eine imaginierte neue Identität. Ich habe festgestellt, dass mir im Deutschen diese Identität zu einem unschuldigen Stil verhilft, weil ich es nicht in der Schule gelernt habe, anders als Französisch und Englisch. Die deutsche Sprache war für mich eine Tabula Rasa, ich konnte gar nichts und von dem her habe ich mir im Kopf Bedeutungen manchmal ganz bildhaft vorgestellt, was mir das Schreiben fast leicht gemacht hat. Leichter als in der Muttersprache. Um in der Muttersprache gute Gedichte zu schreiben, muss man in den eignen Augen immer alle guten Dichter übertreffen und das ist schwierig. Auf Deutsch musste ich niemanden übertreffen. Dieser Unschuldsstatus ändert sich nach vierzig Jahren natürlich.

Sprechen wir über dein letztes Buch, «Glück». Was hat es mit dem Titel auf sich?

Es gab zuerst ein Theaterstück mit dem Titel Glück, das von Ursina Greuel auf die Bühne gebracht wurde. Es geht darin um ein Dorf mit dem Namen «Glück» und die Regisseurin dachte, das wäre ein schöner Titel und so ist er geblieben.

Mit Ana und Igor schaffst du zwei Figuren, die der Gewalt entfliehen möchten, welche beide in diesem Dorf erfahren haben. Sie suchen das Glück und am Anfang sieht es gar nicht schlecht aus für sie. Warum gelingt es ihnen dann doch nicht?

Seit vierzig Jahren beschäftige ich mich mit dem Werk von Ingeborg Bachmann. Glück ist sozusagen meine Antwort auf Malina. Es ist eine Familiengeschichte, die sich zwischen zwei Weltkriegen abspielt, wo sich die Frauen durch ihre sexuellen Kontakte und ihre Vorstellungen von Familie und Glück immer wieder in Situationen vorfinden, in denen sie männlicher Gewalt ausgesetzt sind. Bei dem Begriff ‹Gewalterfahrung›, da bin ich jetzt pingelig, muss nämlich klar sein, dass dahinter immer ein Subjekt steckt, welches die Gewalt ausübt. In diesem Fall sind es Männer, welche selbst Ängste und Schwäche verspüren. Doch in einer Welt, wo Schwachheit keinen Platz hat, können sie nichts anderes, als die Wut und den Hass auf alles Mögliche an Frauen und Kindern auszuleben. In Glück habe ich bei allen meinen Figuren versucht, ihren Platz in diesem Mosaik von Übergriff und Schmerz aufzuzeigen. Das Ganze ist eine Kette, ein Generationentrauma, dem auch Ana und Igor zu entfliehen versuchen. Wie soll nun das Glück ausgerechnet Menschen gelingen, welche so selbstunsicher sind und solch unmenschliche Situationen durchlebt haben?

Du beleuchtest in «Glück» die Gewalt und ihre Auswirkungen von unterschiedlichen Seiten, indem du die Männer ihrerseits als Opfer patriarchaler Strukturen zeigst: Igors prügelnder Vater ist kriegstraumatisiert und Igor, der Ana später misshandelt, erhält für einige Seiten eine eigene Stimme. Wie lässt sich über Gewalt schreiben, ohne die zu Täter gewordenen Opfer zu entschuldigen?

Beim Theaterstück habe ich eine interessante Beobachtung gemacht. Da hat sich ein älterer Mann während der Aufführung beklagt, dass Igor als Mann weniger Platz bekommt als die Frauenfigur. Es wurde also sofort moniert, dass es die Geschichte der Frau sei, die dem Mann ihre Stimme gibt. Mit umgekehrten Beispielen sind wir natürlich bestens vertraut: Bei Effi Briest gibt der Mann der Frau die Stimme, bei Anna Karenina auch und wir sind alle begeistert. Diese Frauenfiguren sind allesamt von Männern erschaffen. In Glück aber bestimmt Ana, wieviel Platz Igor bekommt und sie bestimmt auch, was er sagt. Das muss nicht unbedingt seine Sichtweise sein. Sie konstruiert ihn.

Das Konstruieren fremder Stimmen schreibt sich allerdings unter Frauen fort. Die Psychologin im «Womenirrhaus», dem Frauenhaus, wohin Ana sich flüchtet, predigt den geflüchteten Frauen, «eigene Entscheidungen zu treffen». Ana bleibt aber wenig Spielraum. Inwiefern lässt die feministische Rhetorik um die «Entscheidungsfreiheit» Frauen wie Ana zurück?

Es muss etwas zur Sprache kommen, aber es muss auch wieder aus der Sprache herausgetragen werden können. Wenn die Psychologin von «freien Entscheidungen» spricht, so muss man das schon hinterfragen. Wo bleibt die Freiheit, wenn du heute in Coronazeiten deinen Job im Denner verlierst und drei Kinder hast, wenn du nicht weisst, was morgen kommt? Ana antwortet demensprechend zynisch: «Eigene Entscheidung / hat mich schon hier [ins Frauenhaus] statt ins Paradies / geführt.» Dieser Mangel an Optionen spüren Ana und Igor, aber auch die Mutter und Grossmutter von Ana flüchten als junge Frauen aus ihren Elternhäusern und hoffen, in neuen Beziehungen neu anfangen zu können und sich eine bessere Welt zu konstruieren. Sie geraten aber immer wieder auf die gleiche Schiene. Wie befreit man sich daraus? Ana entscheidet sich dazu, auf genau dieser Schiene zurückzufahren, um herauszufinden, wieso sie eben genau aufgrund ihrer freien Entscheidung in diesem «Womenirrhaus» gelandet ist.

Ana tut dies ja schreibend. Schon als Kind schreibt sie Gedichte, versteht sich selbst als Schriftstellerin. Welche Rolle kommt dem Erzählen in ihrer Traumatisierung zu?

Es ist ein zweischneidiges Schwert: Das hat Susan Sontag in ihrem biografischen Essay so gut erklärt. In dysfunktionalen Familien fangen Kinder zu fantasieren an. Je mehr sie sich eine Fantasiewelt erbauen, um dieser Kälte zu entkommen, statt die wirkliche Liebe zu erfahren, desto mehr Energie verbrauchen sie. Das schleift sich ab. Das sieht man bei Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern: Das Material, welches ihnen zu überleben hilft, ist auch ihre Falle. So ist es auch bei Ana: Sie ist besessen davon, sich ihre Welt besser zu schreiben und sie erschreibt sich ein ungeheures Glück, damit sie die Realität nicht sehen muss – Sie ist nicht ganz hübsch, sie geht in ein Gymnasium, eine Schule, wo es wenige von ihrem Stand hat, sie wird vom Priester betatscht, der ihr Bücher verspricht und sich als Experte für Literatur darstellt. Igor tut etwas Ähnliches mit dem Trinken. Sie beide leben durch diese Bewältigungsstrategien von Unglück in einer Scheinwelt. Sie müssen einander bestätigen, dass ihre Idealvorstellungen von Glück und Liebe stimmen, aber in dem Moment, wo sie mit sich selber und ihren Unzulänglichkeiten konfrontiert sind, geht diese Schweinwelt zu Bruch. Sie sind füreinander Befreier und Gräber zugleich. In dem Moment, wo du die Sprache konstruierst, hast du keine Luft für irgendwas Neues. Ana erkennt das später im Buch, wenn sie sagt, dass sich unser Schmerz und unsere wirkliche Geschichte gar nicht erzählen lassen. Glück handelt eigentlich von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, das Glück zu fassen. Am Ende ist das Schreiben für Ana ein Festhalten, so wie die Flasche für Igor. Deswegen sitzt sie da und schreibt in ihrem Kopf pausenlos.

Der von Arbeit und Gewalt geprägte Alltag lässt ihr aber wenig Raum dazu. Ist das Schreiben ein Privileg gewisser sozioökonomischer Schichten?

Das ist genau wieder das Thema, das mich bei Malina beschäftigt: Wenn das weibliche Ich das Wort ergreift, wessen Wort ergreift es? Natürlich brauchen wir, und das wissen wir seit Virginia Woolf, ein eigenes Zimmer. Allerdings ist die Frage wichtiger, was wir in diesem Zimmer präsentieren. In welche Welt kommen wir? Du gerätst als Frau auf diesen körperlichen Markt mit seinen Zuschreibungen, es ist eine Welt, in welcher du immer wieder diese patriarchalen Rollen spielst. Wir lesen und hören noch immer viel über Frisch und Dürrenmatt, aber wie viele Schweizer Schriftstellerinnen gibt es? Auch die beste Frauenliteratur ist davor nicht gefeit, das sieht man zum Beispiel daran, wieviel Platz Peter Handke beim Nobelpreis bekommen hat und wie wenig Olga Tokarczuk. Also: auch wenn man sein Zimmer hat, auch wenn sich viel geändert hat, schreibende Frauen bestimmen nicht den Diskurs.

Meine Figur Ana sucht deshalb auch etwas jenseits der Wörter und der Sprache. Bachmann sagt dazu, man muss die Wörter im Leben versichern. Ich selbst versichere mich als Dragica Rajčić meiner Empfindungen anhand von anderen Frauenromanen. Malina war für mich eine Revolution. Ich kann alles auswendig. Dieses Buch verhandelt etwas, das absolut zentral ist für unser Sein als Frauen: Was ist dieses sogenannte weibliche Ich? Woraus besteht es? Ana hat keine Antwort darauf. Auch durch das Schreiben wird das nicht explizit, aber es kann ein Weg zu einer Antwort sein.

Wie steht es ums Schreiben zu Zeiten von Corona? Lesungen, Literaturfestivals und Büchermessen müssen abgesagt oder auf Online-Plattformen verlegt werden. Welche Auswirkungen hat das auf deine Arbeit?

Momentan sehen wir gesellschaftliche Vorgänge wie unter einer Lupe, die das zugrunde liegende Skelett blosslegt. Welche Arbeit ist in einer Gesellschaft etwas wert und wieviel? Die Situation offenbart die nackte Realität und die bekommen auch Künstler und Künstlerinnen zu spüren. Ich hatte 21 Lesungen, 21 Lesungen sind storniert. Wir müssen uns bewusst sein, dass es vorher genauso prekär war, aber jetzt sehen wir es besser. In unserer Gesellschaft ist wichtig, was wir essen und dass wir Sport machen. Und die Kultur? Ich habe meine Diplomarbeit zur Frage «Wieso soll die Stadt Kultur fördern?» geschrieben. Diese Frage steht jetzt leider tatsächlich im Raum.

Wir sehen jetzt auch, wie absolut unmenschlich wir in Europa unsere Arbeiter zahlen, meistens sind das Migranten. In Genf warten schon 2’500 Sanspapiers auf ein Kilo Brot. Es gibt so viele Working Poor in der Schweiz, die dem Land helfen, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Wo sind jetzt ihre Arbeitgeber? Bis jetzt lief es auch so, nur hat das bis gestern niemanden gestört.

Du hast damals deine Maturaarbeit über Erich Fromm geschrieben…

Genau, Erich Fromm stellt die Frage: Wozu nutze ich meine Freiheit und wogegen? Das ist immer eine existenzielle Frage. Wir müssen das mit unserem Gewissen ausmachen, das gibt uns keine Autorität vor. Was ist ein menschliches Leben wert? Plötzlich wird das alles so fragil, auch unsere Vorstellungen von der Welt. Wir haben momentan viel Zeit zu Hause, wir fühlen uns zum Denken angeregt, haben auch vorher schon viel nachgedacht, aber wohin führt das? Auf Deutsch gibt es diesen schönen Ausdruck «sich mit etwas auseinandersetzen» – Wieviele Kunstwerke haben sich mit dieser Frage schon auseinandergesetzt? Auch wenn wir Antworten haben, wer hört uns zu? Dabei stellt sich natürlich die Frage nach der Situierung von Macht. Bei einem Modell, wo die Politik nur dazu dient, die Dividenden von grossen Firmen zu sichern… nun ja, da kann ich noch so viele gute Ideen haben. Allerdings setze ich meine Hoffnung in die neue Generation, welche Grenzen überschreiten kann, lokal handelt und global denkt. Die Corona-Krise bringt auch eine ganz neue Art der Empathie und des Nachfühlens hervor, eine Nähe, welche vorhin so nicht vorhanden war. Ich bin sehr hoffnungsvoll. Aber wir müssen aufpassen: Während wir hier sitzen, werden die Karten neu gemischt.

Auch Ana schreibt ganz zum Schluss: «Es muss doch Hoffnung in mir sein». Woraus beziehen wir in deinem Buch Hoffnung?

Für mich muss Literatur wie ein Messer sein, sie muss etwas bewegen. Ich habe viele Rückmeldungen erhalten, die sagen, sie hätten körperlich gefühlt, was mit Ana passiert. Gleichzeitig spürt man aber auch deutlich ihre Kraft.

Das Gespräch führte Ursina Sommer.

Dragica Rajčić Holzner: Glück. 220 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2019, ca. 25 Franken.

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