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Zwiegespräche mit einer Toten

In ihrem zweiten Gedichtband «kyung» bringt die prämierte Schweizer Lyrikerin Eva Maria Leuenberger das Werk einer verstorbenen Avantgardekünstlerin zum Sprechen und erschafft einen multimedialen Textraum, der ein Zeugnis von tiefen Zerrüttungen in leisen Tönen gibt.

Von Judith Rehmann
16. August 2021

Der Titel von Eva Maria Leuenbergers neuem Werk dürfte vielen Europäer*innen fremd vorkommen. Jene, die Leuenberger von ihrem viel gepriesenen Erstling dekarnation her kennen, vermuten dahinter vielleicht ein poetisches Klangexperiment. Damit würden sie jedoch falsch liegen. Denn kyung, das ist keine Wortneuschöpfung von Leuenberger, sondern der Name einer koreanisch-amerikanischen Avantgardekünstlerin: Theresa Hak Kyung Cha. Sie wurde 1982 in den USA in einem Parkhaus vergewaltigt und erwürgt. In ihrer Neuerscheinung führt uns Leuenberger Hak Kyung Chas Leben, ihre Gedanken und ihren grausamen Tod einem lyrischen Schattenspiel gleich vor.

Zur Autorin

Eva Maria Leuenberger, geb. 1991 in Bern, lebt heute in Biel. Studium der Anglistik in Bern und Literarisches Schreiben in Biel. Leuenberger ist Autorin und Spoken Word Künstlerin. Sie wurde zweimal Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017). Ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «dekarnation» erschien 2019 und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Orphil-Debütpreis 2020 und dem Düsseldorfer PoesieDebütPreis 2021. «kyung» ist Leuenbergers zweiter Gedichtband.
Foto: © Anja Fonseka

Als Inspirationsquelle diente der Schweizer Autorin das vielleicht berühmteste Werk der verstorbenen Avantgardekünstlerin: Dictée. Es handelt sich dabei um einen poetischen, autobiographischen Text von Cha, der im Erzählen von Geschichten anderer Frauen* das eigene Ich hinter sich lässt. In kyung trifft man immer wieder auf die in Englisch und Französisch verfassten Verse von Cha – mutig kombiniert Leuenberger ihre eigene Lyrik damit. Der zu Unrecht vergessenen Poetin, Filmemacherin und Künstlerin von koreanischer Herkunft errichtet sie somit ein postkoloniales Denkmal: anerkennt ihre Stimme, lässt sie in unserem Gedächtnis nachklingen und schafft ihr einen Erinnerungsraum. «die finger rollen sich ein / leere in der fläche einer hand», schreibt Leuenberger. «no death will take them, / mother», wird von Cha ergänzt. Leuenberger zeigt hier, dass sie sowohl sorgfältig Dichten als auch Denken kann, zumal es ihr gelingt, nicht in die narzisstische Falle zu tappen und Chas Poesie zur eigenen Profilierung zu missbrauchen. Es scheint vielmehr so, als hätten Cha und Leuenberger im gegenseitigen Einverständnis miteinander gearbeitet, womit Kyung so zu einem kollaborativen Oeuvre beider Autorinnen wird.

An sich sollte das nicht überraschen, denn schliesslich stehen die Namen beider Schriftstellerinnen auf dem Buchdeckel. Unerwartet kommen hingegen zunächst die notizartigen und wertenden Einschübe von Leuenberger, in denen sie uns an ihren Reflexionen zu Dictée teilhaben lässt. Eröffnet werden diese mit der Beobachtung, dass vieles in Dictée befremdlich sei. Diese Fremdartigkeit übersetzt Leuenberger jedoch als eigentliches Potential des Textes: «die leserin ist körperlos, frei – in diesem dickicht wählt sie den weg, und wo immer die füsse landen, entstehen neue öffnungen, neue augen, neue münder.»

Folglich eröffnet Leuenbergers Auslegung von Chas Text einen Raum für Selbstbestimmung und es ist genau diese Sicherheit, mit der Leuenberger von der kaleidoskopischen Leseerfahrung Dictée berichtet: «die perspektiven zerrinnen und die körper lösen sich auf». Damit legt die Bieler Autorin einen mit Feingefühl komponierten politischen Text vor, der an einen feministischen, postkolonialen Diskurs anschliesst, und beweist zugleich erneut ihr schreiberisches Können. Mit lyrischen, essayistischen sowie persönlichen Noten haucht Leuenberger Theresa Hak Kyung Cha mit zarten Worten von präziser Schönheit wieder Leben ein.

Für eine hastige Lektüre eignet sich kyung aber nicht. Das Werk ist eine faszinierende, behutsame sowie unerschrockene Auseinandersetzung mit Entwurzelung, sexualisierter Gewalt, Identität, Herkunft und Sprache, für das man sich die Zeit nehmen sollte, es so sorgfältig zu lesen, wie es komponiert ist. Dann wird Leuenbergers poetische Leistung, für die sie diesen Oktober den Düsseldorfer PoesieDebütPreis 2021 erhalten wird, in seiner vollen Pracht erfahrbar.

Eva Maria Leuenberger: kyung. 136 Seiten. Graz: Literaturverlag Droschl 2021, ca. 30 Franken.