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Vom Fliessen und Verschwinden

In seinem Essay «Henzi Sulgenbach. Ein Lessing-Implantat» entwirft Martin Bieri eine Poetik des Flusses, die mittels literarischer Montage schweizerische Erinnerungspolitik betreibt. Dabei krankt der Text an übermässiger Konstruiertheit.

Von Tobias Bauer
19. Juli 2021

 

Martin Bieris Essay Henzi Sulgenbach. Ein Lessing-Implantat dreht sich um zwei historische Protagonisten: Samuel Henzi und der Sulgenbach. Beide sind aus Berns Erscheinungsbild verschwunden. Die «Henzi-Verschwörung»  findet in der Erinnerungspolitik der Stadt keinerlei Platz, der Sulgenbach wurde unter die Erde gelegt. Der Berner Schriftsteller, Dramaturg und Journalist Bieri holt beide aus der Versenkung und bringt sie zum Sprechen.

Am 17. Juli 1749 wurde Samuel Henzi in Bern wegen Verschwörung gegen die herrschende Patrizier-Oligarchie hingerichtet und wurde damit zu einem Fall, der europaweit für Aufsehen sorgte. Der damals zwanzigjährige Gotthold Ephraim Lessing schrieb im gleichen Jahr das Drama Samuel Henzi. 1753 veröffentlichte er das unvollendete Stück, das sechs Auftritte enthält und am Ende des zweiten Akts abbricht. Bieri nimmt dieses Fragment als Ausgangsmaterial für seinen Essay und rechnet vor: Das Fragment besteht aus 32’166 Zeichen. Im Durchschnitt umfassen Lessings Dramen 109’804 Zeichen, folglich fehlen dem Henzi-Text also 77’638 Zeichen. Diese Lücke füllt er nun mit seinem Text «fast auf das Zeichen genau».

Zum Autor

Martin Bieri, geboren 1977 in Bern. Studium der Theaterwissenschaft, Theologie und Kunstgeschichte, anschliessend Promotion zu zeitgenössischem Theater und Landschaftstheorie. Bieri ist als Autor, Dramaturg und Journalist tätig. Sein publizistisches Werk umfasst wissenschaftliche Beiträge sowie kulturpublizistische Artikel für verschiedene Tageszeitungen über Kunst und Fussball. Als Literat veröffentlichte Bieri Lyrik, Dramen und Hörspiele. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis des Kantons Bern (2016) und der Stadt Bern (2017).
Foto: © Adrian Moser

Psychogeographische Poetik

Aus diesem mathematischen Kalkül als poetische Grundlage ergeben sich drei nebeneinanderstehende Textebenen: erstens Bieris neuer, dem Sulgenbach folgenden Text, zweitens Lessings Fragment und drittens kryptische Randzeilen zum Thema Fliessgewässer. Auf der ersten Ebene beschreibt Bieri mit Hilfe von «psychogeografischen» Schilderungen den Weg des Sulgenbachs. Der Text folgt dem Genius Loci und funktionalisiert das Verlorengehen des Sulgenbachs zum metaphorisches tertium comparationis für das Versiegen eines anderen Textes und für das Scheitern eines Aufstands. Bieri zählt auf, was alles abbricht – die Revolution, ein Stück, der Bach – und wem was abhanden kommt: Lessing ein Stück, dem Aufstand ein Aufständischer, Bern ein Literat, der Erdoberfläche ein Bach.

Textimplantation

Die zweite Textebene basiert auf Lessings sechs Szenen des Samuel Henzi. Bieri montiert die eigenen Abschnitte nach seinem Gutdünken zwischen die Dramenauszüge, womit das Lessing-Fragment zum originären Textkörper wird, in den Bieris Anteile in Form von Implantaten eingesetzt werden. Dabei erweist sich Lessings früher Dramenversuch jedoch als wenig geeignet, um als literarisches Rezeptionsmaterial dienstbar gemacht zu werden. In gestelzten Alexandrinern verfasst ist er dem Revolutionsstoff wenig adäquat, die Handlung versandet buchstäblich im Dialog. Bieri gelingt es leider nicht, zwischen den Lessing-Szenen und seinem eigenen, etwa doppelt so langen Implantat der Sulgenbach-Schilderungen einen tragfähigen wechselseitigen Bezug zu schaffen. Die Konstruktionsabsicht kann nicht eingelöst werden, was zur Folge hat, dass das Zusammenspiel zwischen den beiden Ebenen einen etwas ratlos zurücklässt. Mit der dritten Ebene zieht Bieri zusätzlich kryptische Bioindikationen von Fliessgewässern aus dem Web-Geoinformationssystem ein, die unten auf jeder Buchseite über mehrere Zeilen laufen. Die Abtrennung durch jeweils zwei ∼∼-Wellenlinien erinnert an einen (Sulgen)Bach, der sich durchs Buch zieht, doch darin erschöpft sich der Gehalt dieser Ebene denn auch.

Weniger wäre mehr gewesen

Was bleibt, ist die erste Ebene, der Streifzug dem Sulgenbach entlang von der Quelle am nördlichen Ende des Längenbergs bis zur Mündung in die Aare im stadtbernischen Marzili. Diese lebt davon, dass Bieri nicht nur Samuel Henzi, dem aufklärerisch beeinflussten Lehrer, Bibliothekar, Redakteur, Schriftsteller und Verschwörer nachspürt. Er nimmt viele weitere Fäden auf, die mit Henzi und dem Sulgenbach verbunden sind: Das geht vom Scharfrichter Hotz, der infolge eines erlittenen Schlaganfalls beim Köpfen der drei Verurteilten mehrfach ansetzen musste, bis zum Verwaltungsgebäude Titanic der Eidgenossenschaft, das an der Stelle des Henzistocks steht, wo sich die Verschwörer trafen. Dem Implantationsverfahren gelingt es, Orte zum Sprechen und Gegenwart mit Vergangenheit gekonnt ineinanderfliessen zu lassen. Dafür hätte man die zwei anderen Ebenen jedoch getrost weglassen können.

Martin Bieri: Henzi Sulgenbach. Ein Lessing-Implantat. 112 Seiten. Bern: edition taberna kritika 2020, ca. 18 Franken.

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