KW31

Fluchtpunkt Wut. Geschichten eines Gefühls.

Julia Kohli veröffentlicht mit ihrem zweiten Buch «Menschen wie Dirk» einen Sammelband mit Kurzgeschichten, die sich alle nur um eines drehen: Wut. In prägnanter Sprache kippt sie Alltagssituationen ins Groteske und zeichnet damit ein gekonnt verzerrtes Sittengemälde.

Von Emika Märki
2. August 2021

Es ist eine vertraute, humanistische Vorstellung, dass die Werke von Dichter:innen und Autor:innen stets auf eine positive Botschaft abzielen, sie sollen die Leserschaft lehren, das Leben erfreulicher zu gestalten und die Menschheit glücklicher zu machen. Wut passt hier freilich nicht ins Bild. Dabei spielt sie seit jeher eine bemerkenswerte, wenn auch zweifelhafte Rolle in der Literatur, gerade wegen ihrer tendenziell pejorativen Konnotation und der daraus entspringenden Notwendigkeit, sie in Schach zu halten. Dieses dramatische Potenzial, das Wut und Zorn inhärent ist, inspirierte zahlreiche Autoren seit dem Anbeginn der Literatur – man denke da an Homers Ilias, an Hölderlin, an die Gedichte Goethes und Schillers, aber auch an die Werke Kleists und Kafkas. An ebendiese Schreibtradition knüpft Julia Kohli an. Schon in ihrem Erstlingsroman Böse Delfine, welcher 2018 im Lenos Verlag erschien, erhob Kohli die Absurdität und das Böse des menschlichen Daseins zum literarischen Topos ihres Schreibens. Dies kommt auch im neuen Werk zum Tragen, wenngleich der Ton deutlich schärfer geworden ist. Ob rasend, unterdrückt oder unkontrollierbar – in ihrem neu erschienenen Erzählband Menschen wie Dirk wird eine umfassende Klaviatur von Wutausdrücken bespielt.

Zur Autorin

Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, lebt heute in Zürich. Nach einer Buchhandelslehre studierte sie Wissenschaftliche Illustration sowie Anglistik und Osteuropäische Geschichte in Zürich. Kohli arbeitet als freie Illustratorin, Autorin und Kulturjournalistin. Für ihren ersten Roman «Böse Delphine» wurde sie 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet.

In sieben jeweils knapp zwanzigseitigen Kurzgeschichten, die jeweils den Namen der Hauptfigur im Titel tragen, arbeitet sich Kohli mittels derber Tonalität und prägnanter Sätze durch die Breite menschlicher Schicksale und treibt Alltagssituationen in eine unvorhergesehene Richtung. Vermeintlich normale Szenarien, in denen die streitenden, heulenden, trotzenden Protagonist:innen agieren, entpuppen sich als groteske Szenerien, die dadurch bewusst die Grenze zur Provokation überschreiten. So wird beispielsweise Dirks neues Tattoo zum eiternden Albtraum und lässt ihn mehr als nur seinen männlichen Stolz kosten; in Diana regt sich eine unbändige Wut auf eine Frau, die seit zwanzig Jahren tot ist; und Pierre möchte sich von seiner Frau scheiden lassen, findet jedoch den Mut nicht, es ihr zu sagen. Dabei versieht Kohli ihre Geschichten mit einer gelegentlich überbordenden Fülle an satirischen Elementen, deren man als Leser:in durchaus überdrüssig werden kann. Doch Kohli erhob bereits in ihrem ersten Werk nie den Anspruch, irgendjemanden glücklich zu machen. Zudem sorgen die kurzen Sätze für einen schnellen Erzählfluss.

Dabei bildet die Wut die Klammer, die den Zusammenhalt der unterschiedlichen Geschichten verbürgt und sie strukturiert. Die Facetten der Wut und die Frage nach ihrer Verhältnismässigkeit variiert Kohli dabei in jeder Erzählung überraschend neu. Dabei überzeugen die Kurzgeschichten sowohl durch ihre humoristische und groteske Figurenzeichnung als auch durch die Feinfühligkeit, mit der die Grundmechanismen menschlicher Emotion herausgearbeitet werden. Im Zentrum stehen verunsicherte Existenzen, Menschen, die um Anerkennung und einen gesicherten Platz in der Gesellschaft ringen oder Träume, die darauf fussen, alles hinter sich zu lassen und von Grund auf neu zu beginnen. So vermögen es die in Szene gesetzten Alltagsgeschichten das Bewusstsein dafür zu schärfen, was für ein wunderbarer Handlungsmotor Wut sein kann, denn die emotionalen ‹Entgleisungen› schaffen abwechslungsreiche Reize und sorgen für unvorhersehbare Wendungen. Kurz gesagt: für Lesespass. Gleichzeitig verrät die Wut auch einiges über den- oder diejenige, welche(-r) wütend ist, über seine oder ihre Werteordnung, über die Gesellschaft und deren Milieus. Niemand regt sich über etwas auf, das ihr oder ihm als angemessen erscheint: Eine unbekannte Frau auf Facebook zu stalken ist für den Protagonisten Urs völlig okay. Zu erwarten, dass sie freudig zurückschreibt – absolut angemessen. Aber über zwei Stunden auf eine Antwort warten zu müssen, das verletzt Urs’ Anstandsnormen und stachelt seine Wut auf Frauen an.

Sicher, es gibt andere Wege, um die Absurdität von gesellschaftlichen Normen und Werten literarisch aufzuschliessen. Wut ist keine Lösung – aber ein verdammt gutes Mittel. Sie entwirft Situationen, die zugleich komisch und berührend sind. Als eine der basalen Emotionen des Menschen führt Wut soziokulturelle und psychoanalytische Aspekte zusammen und eröffnet dadurch neue Perspektiven. Julia Kohli zeigt, wie eng die Darstellung von Wut mit den – vermeintlichen – Freiräumen verknüpft ist, die die Gesellschaft dem jeweiligen Individuum zuspricht. Und genau hier schliesst der Geschichtsband thematisch an sein Vorgängerwerk an: Wut ist stets mit dem Gefühl von Ohnmacht und dem Verlust von Freiheit verbunden. Und in diesem Sinne ist Wut auch ein hilfloses Gefühl, ein Gefühl, das die eigene Identität nicht nur ins Wanken bringt, sondern mitunter in absurde Bahnen lenkt.

Julia Kohli: Menschen wie Dirk. 173 Seiten. Basel: Lenos 2021, ca. 25 Franken.