KW42

Ode an die Stille

Tom Kummer

Bekannt geworden ist Eva Maria Leuenberger als zweifache Finalistin des «open mike» in Berlin. Nun lehrt sie uns in ihrem lyrischen Debüt «dekarnation» die Stille zu erfahren und geniessen. In einer schonungslosen «Entfleischung» führt sie uns Schicht um Schicht zum Wesentlichen zurück.

Von Ursina Sommer
19. Oktober 2019

Gedichtbände haben wahrlich einen schweren Stand in den Verkaufsgestellen. Umso mehr freut man sich über die bibliophil gestaltete Ausgabe, die nun im Droschl-Verlag erschienen ist. dekarnation, das ist ein Gedichtzyklus, dessen vier selbständige Stationen uns auf eine Reise führen durch Tal, Moor und Schlucht, um dann zum Schluss wieder an den Ausganspunkt im Tal anzugelangen. Sie alle sind Teil einer Verwandlung, die den Organismus Schicht um Schicht abträgt, die Haut, sein Fleisch, bis schliesslich die Knochen – sein Wesentliches – vollständig frei liegen.

Am Anfang steht ein Tal «in vorgesehener Form», mit Berg, Bach und Wiese, die Steine am Bachufer von einer feinen Decke aus Moos überzogen. Zu diesem Inventar der klassischen Naturlyrik gesellt sich ein Vogel, hier jedoch eigenartig kindlich beschrieben als «blau mit gelb darum». Doch der Vogel – seit jeher Begleiter und Muse der Dichtenden – «singt, ohne Ton» und verschwindet schon bald zwischen den Bäumen.

Die beschriebene Landschaft mutet seltsam starr und unbewohnt an und tatsächlich erweist sich der Boden als nachgiebig, die Idylle der Landschaft ist bröcklig und im Zerfall begriffen. Die Bedrohung dieser Scheinlandschaft geht bei Leuenberger von der Sprache aus:

das tal

ist ein geschlossenes haus:

durch die fenster

zittern die worte, das ende

von etwas

Die Frage, welche diese Verse stellen, ist alt: Wie können Natur und Welt schonungs- aber dennoch wirkungsvoll in Sprache gefasst werden, sodass sie darin überdauern? Die Antwort, welche die Gedichte anbieten, ist neuartig: Der Weg führt über eine umgekehrte Inkarnation, statt der Fleischwerdung des Wortes fordern sie eine Dekarnation, eine Wortwerdung des Fleisches, in deren Zug alles Sterbliche, Zerfallsanfällige weichen muss.

Zur Person

Eva Maria Leuenberger, geb. 1991 in Bern, lebt heute in Biel. Studium der Anglistik in Bern und Literarisches Schreiben in Biel. Leuenberger ist Autorin und Spoken Word Künstlerin. Sie wurde zweimal Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017). Ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «dekarnation» erschien 2019 und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Orphil-Debütpreis 2020 und dem Düsseldorfer PoesieDebütPreis 2021. «kyung» ist Leuenbergers zweiter Gedichtband.
Foto: © Anja Fonseka

Solch wortgewordene Körper zeigt uns Leuenberger im «Moor». Eingebettet in eine schützende Decke aus Torf liegen dort der Tollund-Mann und die Frau von Elling, eingefroren in der Zeit, denn «dort, wo der see zu moor wird / gibt es keine zeit / ein moor und ein körper / heißt unendlichkeit». Unsterblich gemacht sind diese beiden Moormenschen aus Dänemark aber auch in den «Bog Poems» von Nobelpreisträger Seamus Heaney aus dem Jahre 1975, in denen er sie als stumme Zeugen vergangener Gewalt konserviert hat. Er selbst sah seinen Schreibstift als Spate, mit dem er ein Stück Menschheitsgeschichte freilegte, es in seinen Gedichten verewigte und so der Nachwelt zugänglich machte. Dem Tollund-Mann wird auch bei Leuenberger ein neues Leben geschenkt, wenn sie ihn in ihrem Gedichtzyklus neunzig Meter nach links gehen lässt – genau dahin, wo Frau Elling mit ihren Zöpfen liegt. Aber auch andere Stimmen werden bei Leuenberger lyrisch verewigt: Zitate von Dichterinnen wie Emily Dickinson, Louise Glück, Anne Carson oder Claudia Rankine sind kursiv in den Text eingearbeitet und – da ist Leuenberger ganz die brave Anglistin – hinten im Band vermerkt.

Die «Entfleischung» im Sinne einer Konzentration aufs Wesentliche lässt sich in Leuenbergers Gedichten vor allem in formaler Hinsicht beobachten. In einer ovidischen Metamorphose verschwindet der Körper und wird zu anorganischer Materie:

du spürst den stein in deinem rücken

dein körper wird hart          wird fels.

Durch das Weiss der Leerschläge werden Lesende zu einer Pause gezwungen und erleben die voranschreitende Fossilierung in dieser konkreten Abbildung von Zeit quasi hautnah mit. An dieser Stelle wird über Lyrik und ihre Art, die Welt in Sprache zu fassen, mehr gezeigt, als in vielen Fällen je darüber geschrieben werden konnte: Was anderes ist die Lyrik, als eine kluge Anordnung von Schwarz und Weiss, Schrift und Leere? Anders als bei Prosa, wo das Ende der Zeilen zufällig vom Seitenrand bestimmt wird, sind Dichtende bewusste Gestalter von Zeit, indem sie das Gerippe der Zeilen geschickt auf der Seite arrangieren. Das Schwarzgedruckte ist dabei Klang, das Weiss des Papiers Raum, Zeit, Stille. Im letzten Teil, «schlucht», löst Leuenberger den soliden Körper des Gedichts auf, gibt die Verankerung am linken Rand auf, sodass das Papierweiss wie ein renaturierter Fluss durch die druckschwarze Landschaft mäandriert. Auf der letzten Seite nimmt schliesslich die Stille der weissen Seite fast gänzlich überhand, wenn selbst die Paginierung verschwindet und nur noch ein Satz prangt: «das licht fällt in die nacht». Licht und Dunkelheit. Weiss und Schwarz. Alles ist gesagt. Oder, besser: gezeigt.

Werden diese Gedichte Dauerhaftigkeit haben? Wird man sie in fünfzig Jahren noch lesen? Man würde es Eva Maria Leuenberger wünschen. Fakt ist, ihre Lyrik lässt sich nicht mit dröhnender Stimme vortragen. Die Gedichtsammlung lässt keine Lehrer in «Club der toten Dichter»-Manier auf Tische springen und inbrünstig daraus rezitieren. Sie ist nicht leicht zugänglich und ihre Lektüre erfordert Konzentration. Kritisch betrachtet wirken die Gedichte tonlos und ein wenig anämisch, wurde doch, wie der Titel besagt, das Fleisch vom Knochen, das Sinnlich-Üppige, weggelassen. Und überhaupt, ist denn unser Körper nicht massgeblich am Entstehen und am Genuss von Lyrik beteiligt? Soll unser Herzschlag, der Puls in unseren Adern, nicht seine Entsprechung im ebenmässigen Klang und Rhythmus der Lyrik finden? Mag sein. «Songs are strung upon sounds, poems upon silence», wie der britische Dichter Glyn Maxwell unlängst bemerkt hat. Vielleicht ist die Stille ein allgemeines Problem der Lyrik. Vielleicht aber, und das würde der bildstarken Lyrik von Leuenberger viel gerechter, vielleicht lehrt sie uns etwas, das wir in unseren lärmigen Zeiten verlernt haben: die Stille zu geniessen.

Eva Maria Leuenberger: dekarnation. gedichte. 88 Seiten. Graz: Droschl 2019, ca. 30 Franken.

Zum Verlag