KW30

«Literatur bietet die Möglichkeit, das System zu hinterfragen.»

Karl Rühmann im Gespräch über seinen Briefroman «Der Held», den Unterschied zwischen Literatur- und Geschichtsschreibung und eine Poetik des Erlebnisses.

Von Redaktion
26. Juli 2021

Herr Rühmann, Sie sind im ehemaligen Jugoslawien und den USA aufgewachsen. Seit wann leben Sie in der Schweiz?

Seit den späten 80er Jahren, als ich aus der Armee gekommen bin. Ich wollte nicht mehr in Jugoslawien bleiben, weil ich als Träger von Militärgeheimnissen nie ganz frei gewesen wäre. Ich wollte reisen, ich wollte Leute treffen, ohne dass ich jeden Kontakt mit Ausländer:innen melden musste. Das hätte ich gemusst, wenn ich dort geblieben wäre.

Haben Sie zu der Zeit auch schon geschrieben?

Das kam erst später. Ich studierte Deutsche und Spanische Literaturgeschichte in Zagreb und Münster, war zu der Zeit wissenschaftlicher Assisten und hielt Vorlesungen. Danach musste ich zur Armee zu einer Spezialeinheit mit dem Namen PDS, die schon etwas ältere Leute rekrutierten. Man wollte sicher stellen, dass eine gewisse Lernfähigkeit vorhanden und man körperlich fit war. Ich war damals sehr sportlich und so hat sich das ergeben. Nach der Armee wäre ich gerne an der Uni geblieben, aber das ist aus politischen Gründen nicht möglich gewesen. So bin ich in die Schweiz ausgewandert und habe von Null angefangen. Erst arbeitete ich als Sprachlehrer, dann wurde ich Lektor im Verlagsgeschäft und kurz darauf begann ich zu schreiben, wobei ich zunächst nur Kindergeschichten veröffentlicht habe. Das kam mir lohnenswerter vor, weil ich Kinder als Publikum sehr schätze. Vor ein paar Jahren wurde mir das dann zu anstrengend, weil ich nicht mehr so darauf achten müssen wollte, ob ich glaubwürdig oder authentisch bin. Es ist sehr schwer für Kinder zu schreiben, man ist ja kein Kind, also versucht man das mit billigen Mitteln auszugleichen, indem man bspw. Verkleinerungsformen verwendet. Das fiel mir zunehmend schwer, weshalb ich beschlossen habe, in meiner eigenen Sprache zu schreiben.

Über ihren Roman Der Held haben sie gesgat, dass ihre Leser:innen am Ende selber die Wahrheit herausfinden und über den Text richten soll.

Ich wollte den drei Protagonist:innen – Ana, Modoran und Bartok – sehr viel Zeit geben, um sich zu erklären, wobei mir zugute kam, dass man in dem Gefängnis in Den Haag zwar einen Computer verwenden darf, aber kein Internet. Das zwang Bartok und Modoran dazu, sich über Briefe auszutauschen. Die Briefform ermöglicht, dass die beiden Soldaten sich gründlich überlegen, was sie sagen und ihre Sicht ohne Hast und ohne Druck darstellen können. Ich wollte eine zu oberflächliche Argumentation vermeiden, um nicht sofort den Eindruck zu erwecken, dass sich da einer herausreden will.

Mehr als einmal habe ich schon von Leser:innen gehört, dieser General Modoran sei doch ein charismatischer Typ, mit dem würde ich auch gerne unter der Linde sitzen. Das ist schön, denn dann ist es mir gelungen eine Figur zu schaffen, die trotz ihrer belasteten Vergangenheit Sympathien auf sich zieht. So können meine Leser:innen nicht für sich beanspruchen, auf der richtigen Seite zu stehen, nur weil sie die Wahrheit wissen. Diese Ambivalenz der Figuren zwischen dem, was sie wissen, für richtig halten und was sie wollen, überträgt sich auf diese Weise im Lesen. Auch Ana, die den Tod ihres verstorbenen Gatten aufklären will, besitzt diese Uneindeutigkeit. Sie ist keineswegs über alle Zweifel erhaben, sondern eben auch eine Opportunistin.

Zum Autor

Karl Rühmann, geboren 1959 in Jugoslawien, studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster. Es folgten Tätigkeiten als Sprachlehrer, Verlagslektor und Dolmetscher. Als Autor veröffentlichte Rühmann nebst Sachbüchern, Romanen und Hörspielen vorwiegend Kinderbücher. Heute lebt er in Zürich als freier Schriftsteller, Literaturübersetzer und Lektor. Ausserdem ist er als Studiengangsleiter an der Story Academy der SAL Zürich der Lehrgänge Literarisches Schreiben und Drehbuchautor/-in tätig. Für seinen Debütroman «Glasmurmeln, ziegelrot» wurde er 2015 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Rühmanns zweiter Roman «Der Held» war für den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert.
Foto: © Franz Noser

Modoran und Bartok hatten in Den Haag viel Zeit, um die Kriegsereignisse zu diskutieren, tun es aber nicht. In Den Haag spielen sie Schach, reden über Alltägliches, aber erst in den Briefen beginnen sie darüber zu diskutieren, was Wahrheit bedeutet. Welche Bedeutung hat das Sprechen für die Figuren in Der Held?

Modoran sagt ausdrücklich, dass sie beide im Gefängnis nie über Politik gesprochen haben und wenn sie es dennoch getan hätten, hätten sie sich nicht gestritten. Das ist der entscheidende Punkt: Im Gefängnis waren sie gleichwertig. Danach, wenn der eine offiziell ein Held und der andere ein Verbrecher ist, setzt der Rechtfertigungsdrang ein. Der Held hat ein schlechtes Gewissen, weil die von aussen herangetragene Rollenverteilung nicht mit der Wahrnehmung der beiden beiden Offiziere übereinstimmt und ein hierarchisches Machtverhältnis zwischen ihnen etabliert. Diese Unstimmigkeit wird zum Anlass, sich immer wieder erklären zu müssen. Modoran und Bartok wird ein Image verabreicht, zu dem sie Stellung beziehen müssen. Mir scheint es bezeichnend, dass sie sich jeweils von dem anderen verstanden fühlen, obwohl sie Feinde sind, nicht aber von der Öffentlichkeit oder von ihren Anwälten.

Als Leserin ist man versucht, den historischen Hintergrund ihres Romans zu rekonstruieren. Haben Sie sich auf konkrete historische Ereignisse bezogen?

Ich habe im Vorfeld eingehend recherchiert. Es gab historische Ereignisse, die mir als dokumentarische Grundlage gedient haben, bspw. für den Vorfall mit der Brücke. Die Brücke als Kriegsschauplatz bot sich deshalb an, weil sie aus militärisch-strategischer Sicht ein zentrales Objekt ist. Zum anderen ist die Brücke auch ein starkes Symbol für den Übergang von einer Seite zur anderen. Es gab aber keinen realen Vorfall, der sich so ereignet hätte, wie ich ihn schildere. Die Szene mit der Sporthalle ist da näher an der Realität. Tatsächlich gab es eine Operation der kroatischen Armee, bei der viele Zivilist:innen ums Leben gekommen sind und die später sehr kontrovers diskutiert wurde. Es war unklar, wer die Verantwortung trägt, weil eine Partisanengruppe das Massaker begangen hat. Das Militär lehnte jegliche Vorwürfe der Beteiligung ab, obwohl es offensichtlich war, dass sie die Partisan:innen instrumentalisiert hatten. In meinem Buch ist es eine Spezialeinheit unter der Leitung von Marko, von der sich später alle distanzieren.

In der Schweiz kennen wir vor allem die westliche Darstellung der Kriegsreignisse. Wie setzt sich die serbo-kroatische Geschichtsschreibung mit den Ereignissen auseinander?

Noch nicht mit der nötigen Sorgfalt und Objektivität. Jetzt vor wenigen Tagen ist Ratko Mladić endgültig verurteilt worden und die serbischen und kroatischen Medien haben viel dazu berichtet. Ich habe sprachlich Zugang zu dieser Medienlandschaft und festgestellt, dass sich dort in den vergangenen 25 Jahren noch nicht viel bewegt hat. Immer noch wird im Zusammenhang mit Mladić gestritten, wer der Held bzw. der Verbrecher ist. Das lässt meinem Buch eine Aktualität zukommen, die mich nicht sehr freut. Die Serb:innen behaupten, Mladić ist ein Held, der nur sein Volk beschützen wollte und die Politik habe ihn im Stich gelassen, da sie sich bei der EU anbiedern wolle. Die Kroat:innen wiederum fühlen sich im Recht, weil sie den Krieg gewonnen haben und inzwischen EU-Mitglied sind. Sie sind aber auch nicht im Stande über ihre Verbrecher oder Helden zu diskutieren. Es gibt einen kroatischen Historiker, Tvrtko Jakovina, der versucht einen anderen Ton reinzubringen, aber das ist noch sehr umstritten.

Worin sehen sie im Vergleich zur Geschichtsschreibung ihre Aufgabe als Autor?

Wir Schriftsteller:innen haben eine andere Art Verantwortung. Die Geschichtsschreibung hat zur Aufgabe, Quellen auswerten und aus diesen Quellen Schlussfolgerungen zu ziehen, die dann überprüfbar, für alle einsichtig sind und eine Grundlage für die eigene Meinungsbildung schaffen. Dagegen müssen Autor:innen Erlebnisse produzieren, keine Fakten. Darum brauche ich Figuren, die man zu kennen glaubt, wenn man ihre Geschichte liest. Sie erklären sich, sie sprechen mit einem, damit man erlebt, wie es wäre mit diesen Menschen Zeit zu verbringen. Aus diesem Erlebnis können im Idealfall Erkenntnisse entstehen.

In Zusammenhang mit der Wahrheitsfindung in Der Held geht es mir darum, dass ich die Wahrheit zu einem persönlichen Erlebnis mache. Das ist aus der Sicht von Historiker:innenn nicht ganz unproblematisch, denn dann entsteht je nach persönlicher Erfahrung eine jeweils andere Meinung. Aber ich nehme mir diese Freiheit heraus, weil ich als Schriftsteller nicht dafür da bin, allgemeine Wahrheiten, die zumindest für viele Menschen gelten, zu formulieren. Auch wenn das jetzt ein bisschen so klingt, als ob ich mich aus der Verantwortung stehlen wollte: Ich glaube sehr stark an das Erlebnis. Wer sich informieren will, liest ein Sachbuch, wer ein belletristisches Werk zur Hand nimmt, will etwas erleben und will sich selbst in dem Buch wiederfinden. Wenn Sie keine eigenen Gefühle entwickeln, werden Sie sagen, Sie sind nicht in das Buch reingekommen, weil es nicht um Sie geht.

Analytisches Denken und emotionales Erleben streng voneinander zu trennen, ist schwierig. Objektivität spielt auch für die Rechtsprechung eine wichtige Rolle, die bei Ihnen aber nicht sehr gut wegkommt.

Sie kommt in dem Sinne nicht gut weg, als die beiden Figuren Modoran und Bartok einstimmig behaupten, den Jurist:innen käme die Aufgabe zu, aus den bekannten Fakten die Geschichte zu rekonstruieren. Sie greifen auf diese Fakten zu, setzen sie neu zusammen und produzieren eine neue Wahrheit. Das klingt verwerflich, das klingt nach Manipulation. Andererseits unterstreicht dies die Aussage, dass die Wahrheit eine Frage der Perspektive ist. Die Reihenfolge von Fakten kann beliebig kausal zusammengestellt werden, wodurch unterschiedliche Wahrheiten entstehen. Modoran und Bartok nehmen das nicht ernst, weil es für sie nichts über ihre moralische Verantwortung aussagt. An einer Stelle sagt einer der beiden, dass Bild und Rahmen der Kriegsdarstellung nicht zusammenpassen. Das ist es, was die Öffentlichkeit nach jedem Krieg macht: Man schaut sich die Bilder an und vergisst, dass der Rahmen genauso wichtig ist, denn der bildet sich aus den Umständen, die zu einem Ereignis geführt haben.

Aber es ist doch oft sehr schwierig, diese Umstände genau zu fassen

Nehmen wir folgende Schlüsselszene aus dem Buch: Stellen sie sich vor, sie wären ein General und Sie müssten innert acht Minuten eine schwere Entscheidung treffen, zum Beispiel jene Brücke sprengen. Sie wissen von Ihrer Entscheidung hängen viele Leben ab. Sie treffen also eine Entscheidung und gewinnen die Schlacht, dann hören Sie aber, dass dabei auch Zivilist:innen ums Leben gekommen sind. Vor Gericht werden Sie von dieser einen Anschuldigung freigesprochen, weil Sie im Moment der Entscheidung nicht um die Zivilist:innen wussten. Das muss Ihnen doch absurd vorkommen. Damit will ich das Handeln des Generals nicht rechtfertigen, sondern zeigen, dass er die Situation von einem ganz anderen Standpunkt aus beurteilt. Vor Gericht sind es aber diese acht Minuten, auf die sich seine Verteidigung stützt. Und in dieser Welt des Zwiespalts hat die Figur des Generals sich fünf Jahre lang bewegt: Zwischen absurden Beweisen seiner Unschuld und dieser Verantwortung, die er in der Kriegssituation trägt.

Sie waren selbst in der jugoslawischen Armee. Können Sie schildern, wie das Denken in solchen Entscheidungssituationen funktioniert?

Das ist schwer zu erklären. Ein entscheidender Faktor ist, dass innerhalb der Armeestrukturen das Leben ausserhalb keine grosse Rolle spielt. Es gibt keine Interaktion. Die Armee bildet ein eigenes Denken, eigene Gesetze und Verantwortlichkeiten aus, wobei sich das im Krieg um ein Vielfaches potenziert. In der westlichen Welt spürt man noch eher den öffentlichen Rechtfertigungsdruck, deswegen ist es für die beiden Offiziere im Buch schwierig vor Gericht zu stehen, vor allem einem ausländischen. Sie verstehen das nicht: Zum einen, weil die Richter Ausländer sind, zum anderen, weil sie Zivilisten sind, zum dritten, weil kein Krieg ist. Das Gefühl des Nichtverstandenwerdens ist sehr stark.

Ich war Soldat in einer Anti-Terroreinheit und wir hatten Einsätze gegen Diversanten, ein Begriff für Terroristen. Auch wir hatten moralische Zweifel, wenn das, was ausserhalb der Kasernenmauern als Gesetz gilt, gebrochen wurde. Der Rahmen, in dem man sich befindet, ist so undurchlässig, dass man sich letztlich nicht mehr viel überlegt. Man weiss, man muss gehorchen. Man weiss auch, dass es eine gewisse Gesetzeslosigkeit gibt. Wenn ich mich gegen einen Befehl auflehne, den ich für unsinnig halte, dann wird es mir sehr viel schlechter gehen, als wenn ich den Befehl einfach ausführe. Über die Jahre hinweg gerät man so tief in diese Systemstrukturen, dass man nichts mehr hinterfragt. Literatur bietet die Möglichkeit, das System zu hinterfragen. Man kann persönliche Erlebnisse so verwandeln, dass daraus Erlebnisse für andere Menschen entstehen. Das hilft eine gewisse Perspektive zu finden, aus der heraus man das Ereignis anders betrachten kann.

Das Buch lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen lesen. Machiavelli bspw. begegnet einem immer wieder zwischen den Zeilen. Wie bewusst sind diese philosophischen Überlegungen in den Text eingeflossen?

Ich habe zunächst eine Idee, einen spontanen Einfall, dann recherchiere ich, um meiner Idee ein Fundament zu geben. So war das mit den Philosophen. Ich habe Machiavelli zur Hand genommen, um meinen beiden Soldaten zu einer besseren Argumentation zu verhelfen und musste ihn zwischen den Zeilen verstecken, weil ich nicht nur einfach das Bildungsbürgertum ansprechen wollte. Ich hatte schon Zweifel bei der Stelle, wo die Generäle sagen, sie wären Soldaten im alten Rom, sie hätten für Pompeius gekämpft. Ich wollte so philosophisch schreiben, wie die beiden das hätten tun können. Ich wollte authentisch bleiben.

Das Gespräch führte Simone von der Geest. / Foto: © Keystone, Christian Beutler

Weitere Bücher