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Die Verführung des Grauens

In ihrem dritten Roman «Die nicht sterben» lässt Dana Grigorcea den Draculastoff in üppigen Bildern neu aufleben und spielt gekonnt mit unserer Lust am Grauen.

Von Mia Jenni

Entfremdung und Zerfall

Die nicht sterben erzählt von einer namenslosen Kunstmalerin, die nach ihrem Studium in Paris in den Sommerferien in das postkommunistische Rumänien, genauer in die Walachei, zurückkehrt. Schon als Kind verbrachte sie ihre Sommerzeit in der Villa Diana ihrer Grosstante Margot im transsilvanischen Dorf B. Die Tage der Kindheit bestehen aus Tennisspielen und Telefonstreichen, jene der Jugend aus Wanderungen und des erotischen Wunderns. Bei ihrer erneuten Rückkehr nach B. leben die romantischen Erinnerungen, die familiären Traditionen und die Freude an Flora und Fauna wieder auf. Die Realität wird von den Bewohner*innen der grossbürgerlichen Villa weitestgehend ausgeblendet: Kein Scherz scheint zu flach, keine Phrase zu abgedroschen und kein Gebaren zu altmodisch, um die Schatten der Diktatur Ceausescus zu übertünchen. Bemühungen, die von Anfang an brüchig wirken und die Malerin zunehmends befremden. Als in der Familiengruft ein Leichnam sowie das Grabmal Vlad Draculas gefunden werden, ist es mit der gezwungenen Ruhe vorbei. Die Protagonistin fällt in eine fatalistische Spirale, in der Villen zu Bauruinen, rustikalen Bauern zu Menschen mit rostigen Heugabeln und fehlendem Internetempfang und eine Dorfgemeinschaft zu Entfremdeten und Vergessenen werden. Allerdings ist es nicht primär die brutale Realität, die in die Erzählwelt Einzug hält, nein: Es ist Vlad III. Draculea.

Wiederbelebung eines ewig Untoten

Das erweckt Skepsis: Kaum eine andere fantastische Figur ist derart mit Farben, Stoffen, Erotik und schliesslich auch mit politischem Kitsch vorbelastet wie der Vampir.  War mit der Draculaverfilmung Francis Ford Coppolas der ästhetische Zenit der Opulenz nicht endgültig überschritten worden? Die späteren filmischen oder literarischen Verarbeitungen des Vampirstoffs scheinen sich durch Humor (What we do in the shadows), Action (Blade) oder Horror (Låt den rätte komma in) über den Graben des Kitschs zu retten. Der grösste Teil fällt jedoch hinein; das fühlt sich im besten Fall klebrig bis staubig an, nicht selten wird es ungewollt komisch, meistens langweilt es aber nur. Vampirgeschichten zu erzählen ist gelinde gesagt eine Gratwanderung. Eine Gratwanderung, deren sich auch Grigorcea bewusst scheint und die sie vorwiegend überzeugend meistert. Sie versucht gar nicht erst, den möglichen Klischees auszuweichen oder neue Bilder zu erfinden, vielmehr umarmt sie die bestehende Bildsprache taktvoll bis strategisch.

Zur Autorin

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Für ihren 2021 erschienenen Roman «Die nicht sterben» war Grigorcea für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet.
Foto: © Lea Meienberg.

Der Blick der Malerin

Ermöglicht wird dies durch die narrativ ausgeklügelte Wahl der Protagonistin. Als Kunstmalerin erzählt diese in atmosphärischen, ungehemmten und zuweilen überwältigenden Bildern. Innerhalb weniger Seiten werden Himbeerlimonaden, Tennisplätze und schliesslich Flüsse rot gefärbt, einige Paragraphen weiter leuchtet eine Telefonkabine in „durchschimmerndem Azur“. Blumennamen werden aneinandergereiht, italienische Opern zitiert und einem Menschen werden in nächtlichen orgienähnlichen Zusammenkünften blutige Fleischstücke vom Leib gerissen. Und ist doch eine Begebenheit zu drastisch, so hilft der narrative Kniff des unpräzisen Erinnerns über die Runden. Selten wird der Bogen überspannt, was aber unausweichlich scheint, angesichts der Schmäle des angesprochenen Grates. Nur allzu gerne lässt man sich von der farben- und kontrastreichen Erzählung der Malerin in einem wohligen Sog mitreissen, nur um immer wieder mit ebenso abrupten wie brutalen Geschehnisse zu kollidieren. Nicht, dass man nicht unzählige Male vorgewarnt würde: Wiederholt unterbricht die Malerin ihre Erzählstränge und adressiert die Lesenden. Damit lässt sie uns teilhaben an dem Zögern, das dem Erzählen von Gewalt inhärent ist und das konstitutiv mit der Unverlässlichkeit des Gedächtnisses verknüpft ist. Da sie aber der Lesenden einziger Bezugspunkt ist, bleibt uns keine andere Wahl als ihr weiter in die unsicheren, aber verlockenden Erinnerungen zu folgen. In der Folge werden wir stetig und unaufhaltsam von dem Fantastischen eingelullt: Immer seltener hinterfragt man als Lesende die Existenz von Untoten, immer pittoresker werden tatsächlich Gemordete.

Die Lust am Grauen

Es ist gerade dieses Oszillieren zwischen Kitsch und Brutalität, das die Brüche und die Härte der Bevölkerung in der postkommunistischen Walachei deutlicher gestaltet, als eine sachliche Beschreibung derer Lebensumstände. Wenn die ausufernde Erzählerin immer weiter in Grausamkeit und Wahn abdriftet, so folgt man ihr wie hypnotisiert, bis man schaudernd aus einem fiebrigen Traum zu erwachen scheint. Man hatte die ohnmächtige Wut gegenüber der Korruption der rumänischen Behörden einverleibt und den rauen Wind der Karpaten gespürt. Die nicht sterben ist ein erzählerisches Kunstwerk: Die intensiven Farben, die nachvollziehbare Rachelust, das Vergnügen am spritzenden Blut und die harten Schatten, die Essentielles im Dunkeln lassen, beschwören eine Ästhetik, das an Carvaggios Judith und Holofernes geformt sein könnte. Sobald wir aus dem literarischen Traum erwacht sind, überkommt uns ein Schrecken an der eigenen Lust an der Grausamkeit. Und dennoch öffnet man immer wieder den schlichten Buchdeckel, um in die schauerliche Geschichte rund um das Dorf B. zu versinken. Mit ihrem neusten Roman ist Dana Grigorcea eine atmosphärische und aufwühlende Erzählung gelungen, die Verständnis schafft für Gefühlsmomente, an denen rationale Erklärungen kläglich scheitern.

Dana Grigorcea: Die nicht sterben. 272 Seiten. München: Penguin Verlag 2021, ca. 25 Franken.

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