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«Schweizerdeutsch darf allerhöchstens lustig sein, aber ernst genommen wird man nicht.»

Wir haben Sarah Elena Müller auf ein Gespräch über ihr aktuelles Buch «Culturestress. Endziit isch immer scho inbegriffe» getroffen und mit ihr über die Spannweite der Texte zwischen Zeitung und Bühne sowie den «Homo schnurz» geredet.

Von Redaktion
25. Oktober 2022

Die Texte aus Culturestress. Endziit isch immer scho inbegriffe sind ursprünglich Kolumnen, die Du für die Berner Tageszeitung Der Bund geschrieben hast. Bei Deinen Spoken-Word-Auftritten merkt man aber nicht, dass die Texte ursprünglich von der Schriftlichkeit herkommen. Hast Du sie vor der Veröffentlichung als Buch nochmals umgeschrieben oder sind die Kolumnen eins zu eins übernommen worden?

Nur wenige Kolumnen haben kleine Anpassungen erfahren. Weil die Texte über etwa drei Jahre entstanden sind, haben wir im Lektorat vor allem auf eine einheitliche Sprache geachtet. Als ich mit den Kolumnen angefangen habe, habe ich noch auf Hochdeutsch geschrieben und die Texte danach ins Schweizerdeutsche übersetzt. Mit der Zeit habe ich jedoch gelernt, Schweizerdeutsch zu denken und direkt so zu schreiben. Nun merke ich beim Vorlesen, dass diese Überarbeitung nicht zu hundert Prozent geglückt ist. Ich stolpere selbst immer noch über Sätze, die zu viel wollen für jemanden, der sie vorliest.

Trotzdem bekommt man beim Lesen eher den Eindruck, die Texte sind für das laute Lesen und die Bühne gemacht. Auf dem Buchcover ist auch die Gattungsbezeichnung «Szenen» zu finden und die Texte funktionieren von der Dramaturgie auch sehr szenisch. Das Schweizerdeutsche verstärkt den Eindruck der Mündlichkeit.

Mir ist auch erst in der Gesamtmenge aufgefallen, dass es eigentlich Bühnentexte sind. Üblicherweise bin ich eine sehr ausführliche Schreiberin und wenn ich ein Thema behandle, bin ich froh, mehr als 3500 Zeichen zur Verfügung zu haben. Ich glaube, das szenische Schreiben war wie eine Notlösung, um in diesem winzigen Format auf eine kondensierte Aussage zu kommen. Gesprochene Szenenformate haben etwas sehr Verdichtetes und dieses Format hat mir geholfen, etwas für mich künstlerisch Interessantes zu erreichen. Diese 3500 Zeichen in einer Mundartkolumne kann man auch füllen, indem ausführlich über das Wort «gängele» schreibt. Das hat mich aber nicht interessiert.

Und dass die Text auf Schweizerdeutsch erschienen sind …

… war die Auflage der Zeitung. Der Bund hatte seit 35 Jahren eine Mundartkolumne.

Macht es Dir das Schweizerdeutsche nun einfacher, die Texte auf der Bühne zu performen?

Für mich spielt es auf der Bühne nicht so eine Rolle, aber für das Publikum wohl schon. Ich habe das Gefühl, viele Leute hören so lieber zu, weil sie keine geistigen Verrenkungen anstellen müssen. Beim Schreiben hat es für mich jedoch definitiv einen Unterschied gemacht: Gerade weil man dem Schweizerdeutschen unterstellt, nicht für Verhandlungen zu taugen, weil es kleingehalten und verniedlicht wird, hat es meine Ambition noch dringlicher gemacht, etwas von dieser Sprache zu wollen. Es geht mir nämlich so auf den Kecks, dass die ganze Mundartbewegung der letzten Jahrzehnte sich ein Stück weit auf einer Phonetik ausgeruht hat und durch das auch beschnitten hat. Schweizerdeutsch darf allerhöchstens lustig sein, aber ernst genommen wird man nicht. Im Programm der Solothurner Literaturtage steht bei mir auch wieder «witzig und frech» drin. Ich weiss nicht, wer das geschrieben hat – ich jedenfalls nicht. Es käme mir nicht in den Sinn, in das Klischee zurückzufallen: Wenn eine junge Frau in Mundart etwas Unangenehmes macht, ist es witzig und frech.

Bei witzig und frech ist mir trotzdem gleich das Buchcover von Culturestress in den Sinn gekommen. Darauf ist eine Art Schraube mit Kopf und «Chäppi» abgebildet, mäuseartige Tierchen tummeln sich darum und trinken die grün-blaue Flüssigkeit, die von der Schraube tropft. Wie ist das Cover zustande gekommen?

Luca Schenardi hat es gemacht. Er macht sehr oft Plattencover und kann in seinen Illustrationen den «Chnorz der Welt» sehr gut einfangen. Ich habe ihm nach einigen Überlegungen eine Sprachnachricht gemacht und gemeint: Luca, stell dir einfach vor, die Welt ist schon lange untergegangen, die Menschheit wollte irgendeinen Planeten annektieren, um dorthin zu flüchten; sie überlebte allerdings nicht, konnte aber für die letzte grosse Diktatorin der Welt noch ein Denkmal errichten. Ich habe dieses Denkmal «homo schnurz» genannt, aus dem das letzte bisschen Saft grad noch so wie aus einer leeren Tube rausgedrückt wird. Die Diktatorin hat nun ein Denkmal, aber die Menschheit gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch diese komischen Tierchen, die sich nicht viel dazu denken und den Saft einfach trinken. Das Denkmal ist eine Art Nachhall zu etwas, das schon lange tot ist.

Die Texte aus Culturestress wurden bereits weiterverarbeitet, beispielsweise im Hörspiel Zu Ziite vo von Cruise Ship Misery (dem Mundart Pop Duo mit Milena Krstic und Dir). Es gibt auch einen Trailer zum Buch. Wieso wurden die Texte trotzdem in der klassischen Buchform veröffentlicht?

Das war ein Zufall und ich habe mir nie erträumt, dass diese Kolumnen mal ein Buch füllen. Eigentlich war ich auf der Suche nach einem Verleger für mein Romanmanuskript. Das habe ich dem Verlag Menschenversand geschickt. Daraufhin kam die Rückmeldung, dass es vielleicht zu literarisch sei, und ob ich nicht etwas habe, dass mehr «Punk» sei. Da dachte ich, joa das habe ich schon, und schickte die Kolumnen. Die Texte passten dann viel besser ins Programm und der Verlag schlug vor, einen Sammelband zu machen. Das war im Februar 2021 und ich hatte bereits geahnt, dass im kommenden Herbst bei Der Bund eine Redaktionszusammenlegung ansteht und alle Freelancer*innen – auch ich – wohl entlassen werden. Da fand ich es irgendwie toll, dass zum Zeitpunkt meiner Entlassung die Kolumnensammlung erscheinen würde.

Nochmals zurück zum «Denkmal als Nachhall auf etwas, das schon lange tot ist». Diese düstere Stimmung kommt auch beim Lesen der Texte auf. Findest Du das Attribut «dystopisch» für deine Texte zutreffend?

Jein, also zum Teil schon, weil es oft auf Dinge hinweist, die vielleicht so werden könnten. Man hat es mir im Kontext des Online-Journalismus immer mal wieder zugeschrieben. Ich finde «Dystopie» jedoch ein schwieriges Wort. Es entschärft, dass das, worüber ich schreibe, ein Stück weit schon Realität ist. Die Texte sind keine reine Erfindung darüber, wie übel es noch werden könnte. Sie fussen vielmehr auf Gegenwärtigem. Und dass die Texte nicht viel Hoffnung vermitteln, liegt wohl auch wieder am Kolumnenformat. Hoffnung ist ein flächiges, diffuses Gefühl, dass in kurzen Texten viel schwieriger zu vermitteln ist – im Gegensatz zu Wut, dass als kurzer Reiz einfacher in 3500 Zeichen auszudrücken ist. Um eine hoffnungsvolle Stimmung zu vermitteln, bräuchte ich viel mehr textlichen Raum. Oft war ich auch unzufrieden, dass ich nicht mehr in die Texte hineinpacken konnte.

Ich bin schon gespannt auf deinen ersten Roman, der nächstes Jahr erscheint.

Das wird etwas ganz ganz anderes.

Die Texte aus Culturestress zeichnen sich dadurch aus, dass Du sie auf der Bühne performen kannst. Die Wirkung der Texte ist dann eine ganz andere, als wenn man sie liest. Was kommt auf der Bühne hinzu?

Wenn man mich nicht kennt oder nicht sieht, ist es gut möglich, dass man die Szenen nicht als doppeldeutig empfindet. Während meiner Zeit bei der Zeitung kam immer wieder die Rückmeldung, dass man nicht genau wisse, auf welcher Seite ich stehe. Die Kolumnen wurden zuhinterst in der Zeitung abgedruckt und nicht alle Lesenden kannten mich. Aber wenn man mich sieht und ich die Texte vortragen kann, kann man irgendwie gleich besser einschätzen, wie die Texte zu verstehen sind. Nicht, dass ich eine Position beziehen würde, aber man merkt, dass es ein Spiel ist mit Dingen, die man nicht aussprechen sollte – es dann aber doch macht.

Mit Stimmenverzerrer und Musik bringst Du auch Gefühle in den Text, die im Text selbst nicht drin sind.

Ja, und so kann ich den Texten auch eine Wehmut unterlegen, die bei scheinbar lustigen Angelegenheiten eine Traurigkeit durchdrücken lässt. Gerade bei den Texten, in denen die Grossmutter vorkommt, ist man schnell verleitet, das familiär witzig zu finden. Da hilft mir die Musik um zu unterstreichen, dass man den Gap zwischen den Generationen nicht mehr aufholen kann.

Apropos Grossmutter: Bei deiner Performance an den Solothurner Literaturtagen trugst Du einen Schal, den du als «Laich» Deiner Grossmutter bezeichnet hast. Welche Symbolik steckt dahinter?

Eine Art von Symbolik steckt schon in diesem Laich, aber mir ist selbst noch nicht so klar, was für eine. Mitgenommen habe ich ihn schon absichtsvoll, aber danach nicht mehr so absichtsvoll eingesetzt. Meine Grossmutter, der dieser Schal gehörte, ist vor zwei Jahren gestorben. Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Teil von ihr mit mir diese Bühnenreise macht. Sie war auch eine der ersten Frauen, die in Zürich Bildhauerei studiert hat. Sie konnte diesen Beruf jedoch nie ausüben, weil der zweite Weltkrieg kam und sie danach geheiratet hat. Ihr Mann hat ihr mehr oder weniger verboten zu arbeiten. Für mich ist es deshalb eine Errungenschaft, dass ich mit ihrem Schal auf der Bühne stehen kann und mir niemand sagt, was ich darf und was nicht.

Feministische Anliegen verfolgen auch Deine Texte und Du bist Mitbegründerin des feministischen Autorinnenkollektivs RAUF. Eine grosse Frage, aber was bedeutet feministisches Schreiben in deinem Schaffen?

Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Vielleicht liegt meine feministische Haltung bereits darin, dass ich Kunst produzieren möchte, die offenlegt, dass man etwas herausfinden möchte, und nicht schon alles weiss. In Projekten, in denen ich nicht durch 3500 Zeichen und Zeitungskontext eingeschränkt bin, versuche ich deshalb, nach einem integrativen Prinzip zu arbeiten. Wenn es um mein Schreiben geht, geht es zudem nicht nur um Form und Inhalt der Texte, sondern auch um mein Wesen und die Vermarktung meines Schreibens. Und das versuche ich auch im Detail so feministisch wie möglich zu gestalten, weil ich so einen Einfluss auf den Betrieb habe.

Das Gespräch führte Rahel Staubli. / Foto: ©Laura Stevens

Sarah Elena Müller: Culturestress. Endziit isch immer scho inbegriffe. 136 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2021, ca. 25 Franken.

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