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Ein queerer Bildungsroman
Ende September feierte Simon Froehling die Premiere seines zweiten Romans «Dürrst» im Tanzhaus Zürich, moderiert von Gesa Schneider. Der Abend drehte sich um die drei zentralen Themen des Buchs: Homosexualität, Bipolarität und die Rolle der Kunst.
Kaleidoskop der Räume
«Dürrst» ist der Künstlername der Hauptfigur Andreas Durrer in Froehlings Roman. Dürrst entstammt einer wohlhabenden Zürcher Familie, den «Stützli-Durrers», einer langen Dynastie an Seidenfabrikanten. Schon sehr früh entdeckt Dürrst seine Homosexualität und erst spät wird bei ihm eine bipolare affektive Störung diagnostiziert. In den 90er Jahren unter der Borniertheit des bürgerlichen Milieus leidend, bricht der Sechzehnjährige aus und durchwandert bis ins erwachsene Alter diverse Schwulen-, Techno-, Besetzer- und Kunstszenen in Zürich, Berlin, Athen, Edinburgh und Kairo. Sexuelle Grenzerfahrungen, Drogenexzesse, Prostitution, homophobe Gewalt und Psychiatrieaufenthalte stehen auf dem Programm, aber immer wieder auch die Kunst und ein liebevoller queerer Freundeskreis, die beide Dürrst vor dem drohenden Selbstverlust bewahren.
Programmatische Verwirrung
Der Roman gibt die Geschichte seines Helden in kurzen Abschnitten und auf mehreren Zeitebenen wieder. Rückblenden und Erinnerungen springen in die Vergangenheit und eine gebrochene Gegenwart erzählt, wie der Enddreissiger Dürrst sein Comeback als Konzeptkünstler plant und sich in Paul verliebt. Man verliert schon mal die Orientierung bei so vielen Zeitsprüngen. Eine Verwirrung mit Kalkül, wie Froehling sagt. Durch die Komplexität wirkt der Roman sehr kunstvoll, ziseliert und schön. Warum aber die gezielte Verwirrungstaktik? Es ist nicht leicht, das zentrale Romansujet zu erfassen, da die gebrochenen Zeitebenen jene Zusammenhänge verwischen, die (auch kausal) für die Grossform wichtig wären.
Doppelbödige Freiräume
Aus Episoden, Szenen, Schnappschüssen und Kommentaren setzt man sich selbst also ein Gesamtbild zusammen: Sind Dürrsts depressive Phasen immer potentiell lebensgefährlich (Selbstverletzung, Suizidgefahr), vermögen die manischen die künstlerische Produktivität zu befeuern. Der Schaffensrausch wiederum riskiert eine Hypomanie. Sind Dürrsts erkämpfte Freiräume sozial ohnehin prekär, kollidieren diese mit der Bipolarität, die eines stabil geregelten Alltags bedürfte. Neue Freiräume verkehren sich also immer wieder in neue Gefängnisse, aber auch nicht in die alten. Diesem Zynismus verfällt der Roman nicht. Dürrsts Lösung ist vielmehr Kreativität, bewusstes Ja-Sagen zum Leben und die Suche nach alternativen Formen von Beziehung und Familie.
Dürrst, ein Wiedergänger
Gesa Schneider zählt die literarischen Verwandten des Romans auf: James Baldwin mit Giovanni’s Room von 1956, Fritz Zorns Mars (1977) und Édouard Louis’ Im Herzen der Gewalt. Das Zimmer von Giovanni baut Dürrst hyperrealistisch als Kunstinstallation nach. Für Froehling ist Giovanni’s Room so eine Art «Schwulen-Urtext». Dürrst entpuppt sich als eine ziemlich präzise und hellsichtige Auseinandersetzung mit Baldwins Leitmotiven, aktualisiert dessen Stoff und entwickelt ihn weiter für die gegenwärtigen Diskurse um Queerness und Homosexualität. Dürrsts Eltern erinnern zwar oberflächlich durchaus an Mars, sie wirken aber wie Schablonen, die sich aus Zorns 70ern in Froehlings 90er Jahre verirrt haben. Eine Reminiszenz an die Emanzipationsliteratur überfordert den Roman. Entsprechend geht Froehling im Gespräch mit Schneider auch nicht weiter darauf ein.
Ein queerer Bildungsroman?
Insgesamt bestimmt der «Wellenrhythmus» der Bipolarität die Erzähldramaturgie. Er kann einer gewissen Statik nicht entgehen, muss es aber auch nicht. Hier eröffnen sich aufschlussreiche autopoetische Reflexionen über Kunst und Literatur. Der Schnappschuss der Einwegkamera, der Hyperrealismus, das Objet trouvé und das Abschreiben von der Realität: Das alles zielt auf eine Poetik der Räume und Oberflächen, auf das Flüchtige latenter Tiefen und auf Roland Barthes’ «Punctum» der Fotografie. Stimmig wird dadurch auch die Distanzierungstechnik des Romans, konsequent in der Du-Form zu erzählen. Dürrst ist als gelungener Versuch eines zeitgenössischen queeren Bildungsromans diskutierbar. Nicht zufällig wird darin auch Gottfried Keller zitiert. Dürrsts Unfassbarkeit und die Schuld und Scham als treibende Motive erinnern an den Grünen Heinrich. Angesichts der Kunstfertigkeit des Textes und seines raffiniert gewobenen Referenzteppichs verschmerzt man dann etwa eine Figur wie Dürrsts Galeristin, die zur wandelnden Catchphrase («Mi Amor!») mutiert und dadurch einer subtilen Satire auf die Zürcher Kunstszene etwas den Stachel nimmt. Und so macht es schliesslich Freude, diesen Roman auf der Liste des Schweizer Buchpreises zu sehen!
Simon Froehling: Dürrst. 266 Seiten. Zürich: bilgerverlag 2022, ca. 32 Franken.